Nigel Farage ist der Mann, vor dem sie alle Angst haben. Auf der Sommerparty des Spectator-Magazins, einem der wichtigsten gesellschaftlichen Events der Politelite von Westminster, gibt es kein anderes Thema. Farages Reform UK lehrt die Etablierten das Fürchten. Mehr als 200.000 Mitglieder hat die Partei gewonnen. In den Umfragen liegt Reform bei etwa 29 Prozent, rund fünf Prozentpunkte vor der regierenden Labourpartei und gut zehn Punkte vor den Konservativen, die nur noch ein Schatten ihrer selbst sind.
Farage und seine Entourage stehen etwas abseits, erhöht auf einer Terrasse des Spectator-Hauses am St. James’s Park. Er nippt an seinem Glas-Dom-Perignon-Champagner, wo er doch sonst Bier bevorzugt. Sie lachen und amüsieren sich – denn diese Woche lief glänzend für sie. Die Labour-Regierung bietet ein Bild des Jammers. Unten, im Garten, schauen Abgeordnete der Tories besorgt hinauf zu Farage. Sie nennen ihn Großmaul, doch die Angst steht in ihren Augen. Ein Labour-Minister sagt, Farage biete „keine Antworten“ auf die Probleme des Landes.
Keir Starmer ist so unbeliebt wie fast kein Premier vor ihm
Dabei versinkt die Labour-Regierung derzeit in einem Strudel an Chaos und internen Problemen. Eine offene Revolte der Hinterbänkler, die den Premierminister zu demütigenden Kehrtwenden zwingen, eine weinende Finanzministerin im Parlament und neue Löcher im Staatshaushalt: Der Jahrestag des Wahlsiegs Keir Starmers am 4. Juli war überschattet von dramatischen Ereignissen. „Ist Starmer am Ende nach einer schrecklichen Jubiläumswoche?“, fragte die Times in ihrer Titelgeschichte. Chaos, Verzweiflung, Ratlosigkeit – das sind die Worte der Presse für die Labour-Regierung, nachdem die Finanzministerin Rachel Reeves auf der Regierungsbank öffentlich in Tränen ausbrach.
Der Absturz von Labour und Starmer ist dramatisch. „Es ist der schlechteste Start jemals für eine neu gewählte Regierung und einen neu gewählten Premierminister, sei es Labour oder Konservative“, urteilt der Politikwissenschaftler John Curtice, der bekannteste Meinungsforscher des Landes. Würde jetzt gewählt, käme Reform UK laut einer aktuellen Umfrage auf 290 Sitze (von 650) im Unterhaus, berichtet die Sunday Times. Zusammen mit den auf 81 Sitze schrumpfenden Tories wäre eine Mehrheit möglich. Labour käme nur noch auf 126 Unterhaussitze, wäre jetzt schon Wahl. Labour würde damit mehr als zwei Drittel ihrer aktuellen Mandate verlieren.
Starmers persönliche Popularitätswerte sind auf miserable minus 43 Punkte gefallen. Ein Allzeittief. Der oft etwas gehemmt und verklemmt wirkende Jurist ist unbeliebter als fast alle Premiers vor ihm. Starmer habe „ein Jahr voll Lügen und Kehrtwenden“ aufgeführt, schimpft Kemi Badenoch, die Chefin der oppositionellen Tories. Die Proteste nach den Southport-Morden im vergangenen Sommer ließ er hart niederschlagen. Eine nationale Untersuchung des Skandals der pakistanischen Vergewaltigungsbanden („Grooming Gangs“) lehnte er hingegen ab. Die Wirtschaft läuft schlecht, die Steuern steigen. Beim staatlichen Gesundheitsdienst NHS hat sich nichts wesentlich verbessert. Die Einwanderung hat Rekordhöhen erreicht.
After a year in office, just 19% of Britons think Starmer is doing well as prime minister, the lowest level recorded by YouGov so far
Well: 19% (-5 from 7-9 June)
Badly: 69% (+4)
Net: -50 (-9)2024 Labour voters
Well: 41% (-7)
Badly: 49% (+3)
Net: -8 (-10) pic.twitter.com/ZGL3iQdZ7s— YouGov (@YouGov) July 9, 2025
Farage sieht sich schon im Sessel des Regierungschefs
„Britannien ist kaputt“, sagt Farage. Er treibt die Labour-Regierung besonders mit seiner Kritik an der Asylpolitik vor sich her. Häufig postet er Fotos und Videos von Schlauchbooten, überwiegend mit jungen Männern, die über den Ärmelkanal die englische Küste ansteuern. Starmers Versprechen, die illegale Migrantenschleusung über den Ärmelkanal zu stoppen, ist spektakulär gescheitert. Dieses Jahr kamen schon mehr als 20.000 in den Schlauchbooten, 48 Prozent mehr als im Vorjahr. „Es ist eine Invasion“, findet Farage.
Vom Brexit spricht „Mr. Brexit“ inzwischen kaum noch. Fast ein halbes Leben lang hat er im Brüsseler EU-Parlament gegen die EU-Institutionen gewettert. Seit er maßgeblich zum Austritt seines Landes beigetragen hat, schien es, als habe Farage kein Thema mehr. Doch Farage ist ein Stehaufmännchen. Er blieb nicht lange Politrentner. Im achten Anlauf gelang es ihm im Juli 2024, endlich einen Unterhaussitz zu erobern. In seinem Wahlkreis Clacton, einem kleinen Küstenort in Ostengland, läßt er sich allerdings selten blicken. Vielmehr ist er in Westminster präsent, als Nemesis der Starmer-Regierung.
Der 61jährige sieht sich schon als nächster Premierminister. „Die Leute sagen zu mir, du bist die letzte Chance für das Land“, sagt er. Doch ob Farage wirklich bis zur nächsten Unterhauswahl 2029 den Vorsprung in den Umfragen halten kann, ist nicht ausgemacht. Die Tories, denen ihr Erbe der 14 Jahre Regierungszeit wie ein Mühlstein um den Hals hängt, hoffen, daß der Reform-Höhenflug seinen Zenit zu früh erreicht habe. Farage ist charismatisch, gilt aber als sprunghaft.
Das Reform-Programm ist kaum zu finanzieren
Zwar hat die Partei sich professionalisiert. Im Hauptquartier in einer der obersten Etagen des Londoner Millbank Tower in rund hundert Meter Höhe, von wo aus man Westminster überblickt, entwerfen etwa fünfzig Mitarbeiter neue Kampagnen. Von seinem Schreibtisch, auf dem eine Bulldogge aus Porzellan mit Union Jack sitzt, plant Farage den Angriff auf das Polit-Establishment, den Sturm auf die Tür der Downing Street.
Aber Reforms Schwächen sind auch unübersehbar. Die Personaldecke ist dünn. Zwischen Farage und dem Parteirechten Rupert Lowe kam es schon zum Zerwürfnis. Manche glauben, daß sich das Muster der Parteispaltungen – wie früher bei UKIP – wiederholen könnte. Neben Farage verblassen die anderen Reform-Parlamentarier. Ein Abgeordneter verließ am Wochenende die Fraktion, weil er fragwürdige Corona-Hilfsgelder bezogen hat. Farages wichtigste Stütze ist der Parteimanager Zia Yusuf, ein Selfmade-Multimillionär und muslimischer Einwanderungskritiker. Vor ein paar Wochen stand er wegen eines Streits über ein Burka-Verbot schon kurz vorm Austritt. Viele auf der Rechten mißtrauen ihm.
Fragwürdig ist auch das Programm, das Farage recht freihändig entwirft. Seine gigantischen Steuersenkungsversprechen, mit denen er vor der letzten Wahl warb, wären wohl nicht zu finanzieren. Labour versucht, Farage als Populisten zu stilisieren, der mit unverantwortlichen, ungedeckten Finanzplänen das Land gegen die Wand zu fahren drohe.
Folgendes ist Starmers Kalkül: 2029 soll es zum Duell zwischen ihm und Farage kommen. Und er hofft, daß die Wähler dann doch für den langweiligen Labour-Premier statt den riskanten Populisten stimmen werden.