Kann Rumänien den Postkommunismus diesmal endgültig abwählen? Am Sonntag bei der Parlamentswahl sind 18 Millionen Bürger des südosteuropäischen EU-Staates aufgerufen, darüber zu entscheiden. Die Präsidentschaftswahl vergangene Woche brachte vielen Hoffnung: Erstmals seit dem Sturz des kommunistischen Diktators Nicolae Ceaușescu vor 35 Jahren kamen seine Erben von der Sozialdemokratischen Partei (PSD) nicht in die Stichwahl. Ihr Kandidat, Ministerpräsident Marcel Ciolacu, mußte sich mit 19,15 Prozent dem parteilosen Nationalisten Călin Georgescu mit 22,94 Prozent und der als liberal geltenden Elena Lasconi mit 19,18 Prozent geschlagen geben – eigentlich.
Denn erst am Donnerstag verordnete der Verfassungsgerichtshof eine Neuzählung. In der Klage ging es um einzelne Wahllokale, nun werden aber alle 9,5 Millionen Stimmen neu gezählt – ohne Beobachter und Kameras. Und am Montag, einen Tag nach der Parlamentswahl, wollen sich die Richter festlegen, ob die Präsidentschaftswahl nicht komplett wiederholt wird.
Ciolacu wäscht seine Hände in Unschuld. „Ich will gar nichts. Ich habe beiden Kandidaten alles Gute gewünscht“, sagte er bei einer Pressekonferenz und zog sich aus dem Rennen zurück. Wenige Stunden später folgte dann doch eine Machtansage: „Es wird mir schwer fallen, mit Lasconi am Montag am Telefon zu reden – denn sie wird jede Stimme brauchen, um Georgescu zu schlagen.“ Kampflos wollen die Postkommunisten also nicht das Land übergeben. Und der Aufstieg der Rechten hilft ihnen, den Einfluß zu bewahren.
Alle schließen eine Koalition mit der AUR aus
Zwar ist die PSD-geführte große Koalition angeschlagen. Laut der letzten Umfrage vor den Parlamentswahlen käme sie auf 21,4 Prozent – und ihr Juniorpartner, die Nationalliberale Partei (PNL), auf 13,4 Prozent. Dazwischen Lasconis Partei, die zentristische Union zur Rettung Rumäniens (USR) mit 17,5 Prozent. Doch vor ihnen liegt die rechte Allianz für die Vereinigung der Rumänen (AUR) mit 22,4 Prozent. Sie unterstützt Georgescu bei der Stichwahl – und dieser fällt mit radikalen Aussagen auf.
„Waren Sie denn persönlich vor Ort?“ sagte er vor wenigen Tagen einer Journalistin des Etno TV, als sie ihn nach seiner Meinung zum Ukrainekrieg gefragt hatte. Die Hilfen an Kiew lehnt er ab, die Nato nennt er „die schwächste Allianz auf der Erde“. Deutlich milder fällt sein Urteil über zwei Rechte der vorkommunistischen Ära aus: den NS-Verbündeten Ion Antonescu und seine klerikalfaschistischen Gegner der Eisernen Garde. „Ich kann keine Meinung zu Märtyrern haben“, hatte er noch 2022 gesagt. Worte, von denen sich seine damalige Partei, AUR, distanzierte. Daß sie ihn nun unterstützt, rechtfertigt sie mit „anderem Kontext“.
Anlaß genug für eine Brandmauer gegen Extremismus. „Selbst, wenn wir dafür in die Opposition müßten, werden wir keine Regierung mit der AUR bilden“, sagte Ciolacu noch während einer Fernsehdebatte Ende Oktober. Auch PNL und USR sprechen sich gegen eine Regierungsbeteiligung der Rechten aus.
Romania, AtlasIntel poll:
AUR-ECR: 22% (+6)
PSD-S&D: 21%
USR-RE: 18%
PNL-EPP: 13%
UDMR-EPP: 6%
POT-*: 5% (new)
S.O.S.RO-NI: 5% (-2)
FD→EPP: 3% (-1)
SENS~G/EFA: 3% (new)
REPER-RE: 2% (-2)
DREPT~RE: 1% (new)
PPR-*: 0% (new)
PER~G/EFA: 0% (n.a.)
PNCR-ECR: 0% (new)+/- vs. 20-29… pic.twitter.com/bj76qa1zkQ
— Europe Elects (@EuropeElects) November 29, 2024
Korruption lähmt das politische System
Doch Lasconi will sich nicht so leicht vereinnahmen lassen – und schießt gegen den Verfassungsgerichtshof. Tatsächlich sind sechs von neun Richtern dort von einer PSD-geführten Mehrheit nominiert worden. „Extremismus bekämpft man mit Wahlen, nicht mit Entscheidungen der politisch ernannten Richter“, schrieb sie nach dem Auszählungsurteil auf X.
Es sei bereits der zweite Eingriff des Gerichtshofs in die Wahlen in den 35 Jahren Demokratie. Bereits im Oktober hatten sie der EU-Abgeordneten Diana Șoșoacă von der nationalistischen Vereinigung S.O.S. Rumänien die Teilnahme an der Präsidentschaftswahl untersagt. Sie begründeten dies unter anderem mit der Bedrohung der Mitgliedschaft in der Nato und der EU. Beides ist in der rumänischen Verfassung seit 2003 verankert. Schon damals kritisierte Lasconi diese Entscheidung: „Es sieht so aus, als wäre ein Traum von Ciolacu wahr geworden!“ Auch davon distanzierte er sich.
Seine Partei wird längst mit Korruption, Betrug und Machtmißbrauch verbunden. Bereits der erste postkommunistische Präsident, Ion Iliescu, galt als Taktiker und Beschützer der alten Eliten. So hatten er und seine Leute mehrfach Bergmänner gegen kritische Demonstranten mobilisiert, die schnellere Reformen und eine tiefgreifende Aufarbeitung der Kommunismus-Ära forderten. Auch sein Verhältnis zum Extremismus war wechselhaft: Hatte er noch Mitte der 1990er mit der nationalistischen und antiungarischen Großrumänienpartei zusammengearbeitet, gewann er die Präsidentschaftswahl 2000 als die Stimme gegen Extremismus schlechthin.
Die PSD kommt immer wieder zurück
Soziale Versprechen, Kontrolle über Sicherheitsdienste, parteinahe Oligarchen und die Schwäche des Reformerlagers halfen dabei, den Einfluß auch in der Opposition zu bewahren. Erst unter Liviu Dragnea, der von 2015 bis 2019 das Geschicke der Partei lenkte, schien die Geduld zu Ende. Als die PSD-Mehrheit zu seiner Zeit mehrmals Antikorruptionsgesetze entschärfen und mit einer Disziplinarabteilung die Justiz kontrollieren wollte, gingen hunderttausende Rumänen auf die Straße. Am Ende mußte Dragnea 2019 eine Haftstrafe antreten, weil er als Bürgermeister zwei seiner Parteikolleginnen eine Scheinbeschäftigung in seinem Wahlkreis verschafft hatte.
Die als Antikorruptionsbewegung gegründete USR profitierte davon. Sie durfte als drittstärkste Kraft 2020 mit der PNL und der Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien (RMDSZ) eine Mitte-Rechts-Regierung bilden. Ein Jahr später zerfiel sie ausgerechnet an Korruption. USR bemängelte, daß ein Regionalförderungsprogramm Schlupflöcher für Mißbrauch eröffne: „Es wird zu einer weiteren Gelegenheit verkommen, Lokalfürsten zu finanzieren.“ Als PNL und RMDSZ nicht nachgeben wollten, beantragte Lasconis Partei ein Mißtrauensvotum – gemeinsam mit der heute boykottierten AUR. Am Ende kam die PSD dank der Unterstützung der ehemaligen USR-Partner zurück an die Macht – auch dank des Präsidenten Klaus Iohannis.
Der Präsident hat ein eingeschränktes Vetorecht
Dabei hatte er die Wahlen 2014 und 2019 ausgerechnet als entschiedener Gegner der Postkommunisten gewonnen. „Rumänien wird erst dann ein normaler Staat sein, wenn die PSD in die Opposition geschickt wird“, sagte der damalige PNL-Kandidat noch vor fünf Jahren. Das Präsidialamt galt lange als eine Möglichkeit, die Allmacht der Postkommunisten zu blockieren. Denn anders als in Deutschland kann das Staatsoberhaupt Gesetze auch ohne Verdacht auf Verfassungswidrigkeit zurückweisen und aktiv in die Regierungsbildung eingreifen.
So hatte der 2004 überraschend gewählte Mitte-Rechts-Präsident Traian Băsescu mit seinem Vorschlag, Menschenrechtsanwältin Monica Macovei zur Justizministerin einer Anti-PSD-Koalitionsregierung zu ernennen, den Kampf gegen Korruption entschieden vorangetrieben. Der zum Abhören von Richtern mißbrauchte Geheimdienst wurde aufgelöst, die seit 2002 existierende Nationale Antikorruptionsbehörde bekam wirksame Befugnisse und ein auskömmliches Budget. Băsescus Nachfolger Iohannis verweigerte noch 2016 dem PSD-Chef Dragnea die Vereidigung zum Ministerpräsidenten.
Nun gibt sich der scheidende Amtsinhaber versöhnlicher. Als Ciolacu 2023 turnusgemäß den Regierungsvorsitz von seinem PNL-Verbündeten Nicolae Ciucă übernahm, sprach Iohannis von einem „neuen Maß an Seriosität in der Koalition“. Und die PSD bildete mit den Nationalliberalen sogar eine gemeinsame Liste zur Europawahl, die immerhin 48,55 Prozent der Stimmen bekam. „Unsere Priorität ist es, Rumänien vor Extremismus zu verteidigen“, erklärte Ciolacu noch im Februar.
Rumänien kämpft mit Inflation und Armut
Mit dem Überraschungserfolg Georgescus klingt diese Begründung überholt. Der Nationale Sicherheitsrat unter Iohannis und dem PSD-Regierungschef hat bereits einen Schuldigen gefunden: „Gemeinsam mit anderen Staaten an der Ostflanke sind wir zur Priorität feindlicher Handlungen von Akteuren wie der Russischen Föderation geworden.“ Auch die Videoplattform Tiktok habe „einen Kandidaten“ bevorzugt – gemeint war Georgescu. Die oberste Telekommunikationsbehörde des Landes erwägt bereits, die App zu regulieren.
Damit bleibt die Wurzel des Problems unangetastet. „Vielen ging es nicht nur um Ideologie, sondern auch Frust“, schrieb Investigativjournalist Andrei Popoviciu für den Guardian. Auch sein Vater sowie viele ehemalige Schulkameraden hätten den Ex-AUR-Mann gewählt. Die Wut über die höchste Inflationsrate der EU, stagnierende Löhne und „das Gefühl, das System würde gegen sie arbeiten“, sei altersübergreifend. In den Wahllokalen im Ausland kamen Georgescu und Lasconi zusammen auf knapp 70 Prozent. Seit der Wende verließen rund vier Millionen Bürger Rumänien.
Doch große Änderungen sind nicht zu erwarten. Eine Koalition mit den Postkommunisten schließt die USR-Chefin nicht aus. „Ein Gespräch ist möglich. Erstmal müssen wir die Wahl am Sonntag abwarten“, sagte sie auf Nachfrage des Privatsenders Antena 1. Um die Westintegration Rumäniens nicht zu gefährden, sei eine „Regierung der nationalen Einheit“ eine Option. Diese brachte auch Ciolacu ins Gespräch. Sollten die Umfragen richtig liegen, steht eins fest: Der Postkommunismus hält sich weiter hartnäckig.