Ungarn hat bekanntlich eine ganz eigene Perspektive, wenn es um internationale Politik geht. Das gilt auch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine. Die Position des Landes zu dem Konflikt ist mittlerweile bekannt. Ministerpräsident Viktor Orbán (Fidesz) machte diese auf dem Nato-Gipfel in Madrid jüngst noch einmal deutlich: Ungarn muß sich aus dem Krieg heraushalten. Nur Frieden kann die kriegsbedingte Inflation und Wirtschaftskrise beenden.
In den liberalen deutschen Massenmedien wird diese Haltung als pro-russisch verkauft. Dabei blenden sie aus, daß der ostmitteleuropäische Binnenstaat Ungarn in höchstem Maße auf russisches Öl und Gas angewiesen ist. Eine vernünftige Alternative kann das Land weder finanzieren, noch in naher Zukunft umsetzen. Wie die meisten Menschen in Europa, die Inflation und daraus resultierende Preiserhöhungen treffen auch die Ungarn schwer. Abhilfe schafft die Regierung mit einem Programm zur Senkung der Energiepreise.
Der Krieg in der Ukraine war eines der zentralen Themen im ungarischen Wahlkampf vor dem Urnengang im April. Außer dem Versprechen, Orbán zu stürzen, kam von der linksliberalen Oppositionsliste kaum etwas. Schließlich fuhr das Bündnis Fidesz-KDNP zum vierten Mal in Folge einen Sieg samt Zweidrittel-Mehrheit im Parlament ein.
In Krisenzeiten wollen die Ungarn kein Risiko eingehen
Schon vor dem Krieg deuteten Wahlumfragen eine Niederlage der Oppositionsparteien an, auch wenn es zwischenzeitlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen gegeben hatte. Die Liste hatte versucht, aus der Situation zu ihrem Vorteil zu nutzten, äußerten sich aber mitunter widersprüchlich und sorgten für Irritation. Die Ergebnisse am Wahltag sprachen für sich. Mittlerweile räumen mehrere führende Oppositionspolitiker ein, damals auf die falsche Strategie gesetzt zu haben. Mehr Zustimmung aus der Bevölkerung hätten sie wohl mit einer ähnlichen Position wie der des Fidesz erhalten.
Besonders ihre Forderung, Waffen und Soldaten in die Ukraine zu schicken, markierte wohl ihr krachendes Scheitern. Eine Politikerin bekundete gar, die ungarischen Truppen seien gemäß der Nato-Verträge verpflichtet, im Kriegsgebiet zu kämpfen, wenn das Verteidigungsbündnis dies anordnet. Das zeigt eindeutig, wie gering ihre Sachkenntnis über die Nato ist. Mit solchen Aussagen verspielt die Opposition das Vertrauen der Ungarn, die sich eine stabile Politik wünschen, die von Expertise und Erfahrung zeugt.
Für viele Menschen war die Motivation, das Oppositionsbündnis zu wählen, Protest. Viele verabscheuen die Regierung und wollten der Gegenseite eine Chance geben, selbst wenn sie Zweifel an deren Tauglichkeit, das Land zu führen, haben. Seit dem Krieg steht für die Ungarn plötzlich mehr auf dem Spiel. Viele wollen kein Risiko eingehen, wenn es um einen Konflikt geht, der sich quasi um die Ecke abspielt. Die vorherrschende Meinung ist: Die Regierung muß das Land schützen. Vor dem Krieg und vor den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Konsequenzen.
Minderheitenfrage sorgt für Spannungen
Zudem sollte nicht vergessen werden, daß der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Ungarn bereits ein Begriff war, als die Mehrheit der westeuropäischen Öffentlichkeit sowohl von dem Land als auch ihren Politikern keine Ahnung hatte. Und das leider nicht aus positiven Gründen. Seit Jahren regt sich in Ungarn Protest gegen die diskriminierenden Gesetze aus Kiew. Die ungarische Minderheit in Transkarpatien, darf etwa nicht die eigene Muttersprache sprechen.
Natürlich wissen wir Ungarn, daß diese Gesetze mit Blick auf die russischsprachige Minderheit beschlossen wurden, und unsere Leute nur ein „Kollateralschaden“ sind. Dennoch macht diese Politik und das gesellschaftliche Engagement chauvinistischer Gruppen das Land zu einem gefährlichen und unfreundlichen Ort für Ungarn, die auf dem heute ukrainischen Territorium leben. Die breite Mehrheit der Ungarn, ganz gleich welcher Parteizugehörigkeit, prangert dies an. Diese Facette ist nötig, um das teils angespannte Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn zu verstehen.
Mehrheit der Ungarn lehnt Selenskyj und Putin ab
Eine aktuelle Wahlumfrage der Stiftung Századvég zeigt, daß die Ungarn Selenskyj zunehmend ablehnen. Das bekundete Mißfallen gegenüber dem ukrainischen Regierungschef stieg von 65 Prozent im Mai auf 68 Prozent im Juni. Der Anteil der Befragten, die sich negativ über Rußlands Präsidenten Wladimir Putin äußerten, betrug im Juni wie schon Mai 72 Prozent. Die Ungarn sind also beiden Landesführern nicht wohlgesonnen.
Die Anteilnahme mit Blick auf den Krieg ist hingegen spürbar hoch. Das Thema dominiert in den sozialen Medien, wo ein reger Meinungsaustausch stattfindet. Besonders Facebook-Gruppen, die mit, „alternativen“ Nachrichten werben, erhalten viel Zulauf. Das liegt zu großen Teilen auch an der Berichterstattung westlicher Medien, die in Ungarn als voreingenommen gelten. Die Skepsis entstand nicht zuletzt deshalb, weil gerade das ostmitteleuropäische Land immer wieder Ziel von Falschbehauptungen und Attacken der wurde.
In Ungarn gibt es eine Vielfalt an Meinungen über die Situation in der Ukraine und die internationale Politik im Allgemeinen. Die Mehrheit findet aber bei der Position zusammen, daß der Krieg so schnell wie möglich beendet werden sollte. Die meisten von ihnen folgen nicht dem europäischen Narrativ, nach dem die eigene Sicherheit und Lebensgrundlage zugunsten eines Sieges der Ukraine geopfert werden sollte. Wenn Orbán also sagt, sein Land wolle nicht in den Krieg hineingezogen werden, handelt es sich nicht um eine Sympathiebekundung gegenüber Rußland, sondern um den Willen des Volkes.
——————————–
Mariann Őry ist Chefin des Auslandsressorts der ungarischen Wochenzeitung Magyar Hírlap.