Lange schien die Sache eindeutig. Anhänger des gestürzten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch sollen für das Massaker auf dem Maidan im Februar verantwortlich gewesen sein. JF-Reporter Billy Six ist den wichtigsten Spuren nachgegangen und kommt zu einem anderen Schluß. In der vergangenen Woche beschäftigte sich unser Reporter mit fem mysteriösen Brand des Maidan-Hauptquartiers im Februar 2014.
„Es war auch eine Geheimaktion“, beharrt Inna Bogoslowska, die seit fast zwei Jahrzehnten in der ukrainischen Politik aktiv ist. Die Parlamentsabgeordnete war die erste aus den Reihen der „Partei der Regionen“, welche Präsident Viktor Janukowitsch zum Rücktritt aufgefordert hatte.
Bereits am 1. Dezember 2013 trat sie aus der Regierungsfraktion aus. Heute betont sie, die Gewalttätigkeit des damaligen Präsidenten habe sie zu diesem Schritt bewogen. Der Euro-Maidan markiere für sie „das Ende der Sowjetperiode“ in der Ukraine, stellt Bogoslowska klar.
In der Berichterstattung zum Zweifel an der Urheberschaft der Maidan-Toten zitierten sie alle deutschen Medien mit der Stellungnahme, sie habe in einem Video Scharfschützen in „Berkut“-Uniformen gesehen, die bewußt in die Reihen beider Parteien geschossen hätten – „aber nicht im Auftrag der ukrainischen Sicherheitskräfte“.
Medienaufruhr ohne Hintergrund
Beim Gespräch in ihrem Büro konkretisiert Bogoslowska ihre öffentlichen Aussagen vom 21. Februar, welche den Beginn der ganzen Verschwörungsdebatte markierten: „Das Video wurde mir auf einem Mobiltelefon vor dem Parlament gezeigt“, so die 53jährige.
Warum sie, die gewiefte Anwältin, den Film nicht sofort sicherte, bleibt schleierhaft. Das angebliche Beweismaterial ist verschollen. Damit nicht genug. Auf Nachfrage markiert Bogoslowska die Position der vermeintlichen zwei Schützen: Sie hätten auf den Dachkanten des „COOP Spilka“ gesessen, dem siebengeschossigen Gebäude an der Kreuzung von Institutskaja-Straße und Khreschatik-Allee, so die Politikerin. Das ist direkt am Maidan.
Dank guter Beziehungen zum örtlichen privaten Sicherheitsdienst gelingt es, das Haus näher zu untersuchen. Ergebnis: Es ist gekrönt mit einem Spitzdach, direkte Zugänge gibt es nicht. Das Anwesen ist nicht mit anderen Bauwerken verbunden. Denkbar ungünstiges Gelände für Geheimsöldner. Konfrontiert mit den Fakten verweigert Bogoslowska jede weitere Aussage.
Das Beweismaterial ist ein Witz
Der zweite Abgeordnete, der am 24. Februar mit vermeintlichen Enthüllungen zum Kiewer Blutbad internationale Schlagzeilen erregte, war Ghennadi Moskal. Früher Kriminalpolizeichef und stellvertretender Innenminister, politisch groß geworden mit der „Orangenen Revolution“ von 2004, sucht er 2014 als Chef einer Parlamentarier-Kommission um Aufklärung.
Konkretes könne er nicht sagen, läßt Moskal verlauten, er wolle die Staatsanwaltschaft nicht behindern. Doch ob diese wirklich an Aufklärung interessiert ist, daran gibt es mittlerweile erhebliche Zweifel. Als einzige Institution geht die Staatsanwaltschaft jeder Stellungnahme aus dem Weg: Ermittler Pavlo Nemchynov und Pressesprecher Vassyl Soriah lassen für diese Recherche eine Zusage nach der anderen platzen.
Was Moskal ihnen als Enthüllungsmaterial zugestellt hat, beweist dazu überhaupt nichts: Die neun Seiten Papier, die den angeblichen „Bumerang und Welle“-Plan der Sicherheitsdienste zur Räumung des Maidan beschreiben, sind ohne Kopfbogen, Stempel oder Unterschrift. Theoretisch hätte diesen „Fund“ mit den Namen von 27 Verdächtigen jeder schlichte Fälscher am heimischen Rechner ausgedruckt haben können.
Das Projektil flog anders als behauptet
Problematisch ist, daß die einmal ins Leben gerufenen Schauergeschichten ein Eigenleben entwickelt haben. Unbescholtene Bürger berichten von russischsprachigen Sicherheitskräften in den Reihen der Staatsmacht und vergessen dabei, daß zu Zeiten des gemeinsamen Sowjetstaates der Zuzug aus Rußland problemlos möglich, teils gar gefördert wurde.
Und auch im neuen Pressezentrum sind die ukrainischen Medienaktivisten nicht vor Märchen gefeit: Das fünf Zentimeter breite Einschlagloch im Balkonfenster, berichten einige Freiwillige, stamme von einem der „feindlichen Scharfschützen“ – abgefeuert vom Dach des gegenüberliegenden Wohnhauses mit Spitzturm. Es ist ein Glücksfall, daß genügend Spuren vorhanden sind, die es ermöglichen, den tatsächlichen Hergang zu rekonstruieren.
Das Projektil durchflog die Halle im zweiten Stockwerk und schlug neben der Eingangstür in die Wand ein. Der Abstand und die Höhen von Durch- und Einschlag sind zügig ausgemessen. Mit Hilfe des Strahlensatzes läßt sich die Herkunft bestimmen: Je nachdem, ob im Stehen aus zwei Metern Höhe oder im Liegen gefeuert worden ist, liegt die Quelle zwischen 104 und 137 Meter vom Pressezentrum entfernt.
Keine Profikiller auf dem Maidan
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Das ist laut Karte im Dreieck zwischen Gründerdenkmal, Tschaikowsky-Musikakademie und Khreschatik-Straße, und damit vom Boden aus einem stets oppositionsbeherrschten Gebiet mit dichter Zelt-Besiedlung. Während der Nachforschungen bestätigt Jura, Kosake aus Dnjepropetrowsk und Krieger der vierten Maidan-Hundertschaft („Szotnija“), diese Feststellung.
„Unsere Leute haben mit einer Winchester gefeuert“, sagt er. Was er meint, ist ein Jagdgewehr – und die sind in der West-Ukraine traditionell weit verbreitet. Zu jenem Zeitpunkt, am 18. und 19. Februar, sei das Pressezentrum noch im besetzten Gewerkschaftshaus untergebracht gewesen.
„Berkut“-Einheiten seien von der Seite vorgestoßen und hätten vor dem betroffenen Gebäude gestanden. Ob der Angreifer im Chaos schlecht gezielt hat oder bewußt nur auf Abschreckung setzte, bleibt unklar. Ein Profimörder war er mit Sicherheit nicht.
Sinnestäuschung am McDonald’s
Gespräche mit zahlreichen Augenzeugen legen den Schluß nahe, daß sämtliche Gebäude um den Maidan herum mit „mordlüsternen Söldnern“ besetzt gewesen sein müßten. In der Psychologie wird von Streß-Syndromen und Gedächtnisverfälschungen gesprochen.
Anders ist nicht zu erklären, wieso es beispielsweise im hinteren Teil des Protestlagers sowie der langgezogenen Khreschatik-Allee keine Niedergeschossenen gab, dafür jedoch abseits in den Nebenstraßen Institutskaja und Gruschewskoho, vor allem zwischen Parlament und Präsidentenpalast.
Und daß Teilnehmer gar bei ihrer Ehre schwören, am anderen Ende des Maidan, beim McDonald’s und dem „Hotel Kosatsky“ seien Personen von den Dächern aus erschossen worden. Vermutlich eine Folge des überwältigenden Eindrucks zahlreicher Toter und Verletzter, die in jenen sicheren Bereich getragen worden sind.
Die Hotelleitung des „Kosatsky“ bestreitet, daß ein Scharfschütze auf dem Dach gesessen hätte – und das Bauwerk ist tatsächlich isoliert, von Seitengebäuden aus nicht zu erreichen. Auch Anwohnern der verdächtigen Häuser ist nichts aufgefallen. Vor Ort präsente Ärzte und Helfer, die nun in Ruhe zu sprechen waren, bestätigen übereinstimmend: „Wir haben nur Opfer von anderen Stellen entgegengenommen.“
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Alle Hintergründe lesen Sie in den Ausgaben 34/14 und 35/14. In der kommenden Woche beleuchtet Six auf JF-Online die Medienpropaganda und beschäftigt sich mit der Frage, ob Maidan-Aktivisten für das Massaker verantwortlich sind.