Der Buchautor Thomas Fasbender lebt seit über 20 Jahren als Geschäftsmann in Rußland. Der promovierte Philosoph hat das Land kennen- und liebengelernt und kommt trotzdem aus dem Staunen nicht heraus. Das Riesenland ist anders als das kleinteilige und wohlgeordnete Europa und verlangt einen anderen Blick. Schon der Buchtitel „Freiheit statt Demokratie“ enthält eine Provokation für den überzeugten Westler, für den beide Begriffe deckungsgleich sind und der glaubt, daß sie bei ihm zu Hause verwirklicht seien. Rußland könne also nichts Besseres passieren, als zu ihm aufzuschließen.
Fasbender hält dem entgegen, daß der westlichen Welt ein ähnlicher Paradigmenwechsel bevorstehe wie einst bei der Ablösung des geozentrischen durch das heliozentrische Weltbild. Der Kosmos drehe sich längst nicht mehr um die westlich-demokratische Weltanschauung. Der Vorsatz, Rußland nach Washingtoner und Brüsseler Maßstäben zu begreifen und zu formen, führt in die Irre.
Gefühl für Dramaturgie und hohe Sprachkunst
Ist der Autor also ein „Rußland-“, ein „Putin-Versteher“ gar? Durchaus! Es ist ein Armutszeugnis und eine Selbsterniedrigung des deutschen Journalismus, daß unter seinen Händen die Begriffe zu Schimpfworten verkommen sind. Es ist doch das Selbstverständlichste der Welt, die historischen Prägungen, die Hinter- und Beweggründe des anderen zu erkennen und zu verstehen. Was keineswegs bedeutet, daß man seine Ansichten teilt.
Fasbender beschreibt die russische Wirklichkeit aus drei Perspektiven – der historisch-kulturellen, politischen und lebensweltlichen –, die er virtuos, mit einem sicheren Gefühl für Dramaturgie und mit hoher Sprachkunst, überblendet. Das Buch vermittelt nicht nur Einsichten, Fakten und Zusammenhänge, es ist auch ein Lesegenuß.
Kulturschock des Mongolensturms wirkt bis heute
Der Autor geht bis zur Kiewer Rus zurück, welche die Keinzelle des heutigen Rußland bildet und 998 durch die Hochzeit des Fürsten Wladimir I. mit einer byzantinischen Prinzessin eine Verbindung zum christlichen Europa knüpfte. Der Kontakt wurde brutal unterbrochen durch die zu Beginn des 13. Jahrhunderts einsetzenden Mongolenstürme, die die russischen Fürstentümer für die nächsten 250 Jahre unter das Joch der „Goldenen Horde“ – die Herrschaft der Khane – zwang.
Die kommunale Selbstverwaltung der Kiewer Rus wurde ausgelöscht, die Herausbildung eines freien Bürgertums, eines unabhängigen Adels und eines selbstbewußten Priesterstandes unterbunden. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts gelang es dem Moskauer Fürstentum, die Fremdherrschaft zu beenden. Doch die „Herrschaftsprinzipien einer halbnomadischen Reiterarmee“ – Untertanengeist, Speichelleckerei, Intrigantentum und Verantwortungslosigkeit – blieben wirksam und prägen die russische Mentalität bis heute.
Rußland hat ausgesprochen grausame Herrscher gekannt, doch im kollektiven Gedächtnis wird ihnen die Grausamkeit nachgesehen. Es herrscht die Auffassung vor, daß anders die Fremdherrschaft nicht hätte beendet oder verhindert werden können. Das gilt für Iwan den Schrecklichen wie für Stalin, dem Fasbender prognostiziert, daß er eines Tages in der russischen Überlieferung einen ähnlichen Platz einnehmen wird wie Napoleon in Frankreich. Wer sich in Deutschland darüber wundert, erinnere sich gefälligst daran, daß Hitler den Russen eine „Untermenschen“-Existenz zugedacht hatte!
Der Oligarch Michail Chodorkowski als elisabethanisches Drama
Rußland läßt sich nur zur Hälfte mit der europäischen Rationalität erfassen, zur anderen Hälfte gehört es zu Asien, das Wirkungen ohne sichtbare Ursachen und Antworten auf Fragen kennt, die keiner gestellt hat. Auch aus diesem Grund waren die Punk-Band Pussy Riot (Fotzen-Aufstand) oder der Oligarch Michail Chodorkowski niemals die Avantgarde einer russischen Demokratiebewegung. Die ist die Angelegenheit einer schmalen urbanen Schicht und eine Illusion westlicher Medien. Chodorkowski hat mit der russischen Dissidententradition, für die der Name Andrej Sacharows steht, nichts gemein.
Die westlich-demokratische Karte begann er erst zu spielen, als mit Putins Machtantritt seine eigene, unter Boris Jelzin errungene Position ins Wanken geriet. „(Die) Verbündeten waren rasch gefunden – die westliche öffentliche Meinung und die westlichen Medien, gefüttert von amerikanischen PR-Beratern und Kanzleien.“ Den Konflikt zwischen ihm und Putin vergleicht Fasbender mit einem elisabethanischen Drama.
Erfahrungen mit russischer Behördenwillkür
Für Winston Churchill war Rußland ein „Mysterium“ und der Schlüssel dazu das „russische nationale Interesse“. Viele Russen sehen heute in Putin dessen Vertreter. Zu ihm hat der Autor ein gespaltenes Verhältnis, nennt ihn gar ein „Schnepfengesicht“, aber bekundet ihm auch unverhohlenen Respekt. Der Westen hat die chaotischen 1990er Jahre, als Rußland Schwäche zeigte, für einen Dauerzustand gehalten und geglaubt, Moskau unter Kuratel nehmen zu können. Putin hat damit Schluß gemacht. Auch die russische Opposition ist heute nicht mehr überwiegend prowestlich. Andererseits bleibt Rußland auf ein gedeihliches Verhältnis zu Europa angewiesen. Umgekehrt gilt das gleiche.
Selbstverständlich hat Fasbender reichlich Erfahrungen mit der russischen Behördenwillkür gesammelt. Fast sprichwörtlich sind die polizeilichen Geschwindigkeitskontrollen, die wahllos auf den endlosen, menschenleeren Landstraßen stattfinden. Doch die Willkür hat System, das auf den Namen „Korruption“ hört. Die Behörde erwartet von den Milizionären, ihren Teil zur Aufbesserung des kargen Budgets beizutragen. Man kann diesem System nicht entkommen, man kann nur, wenn man geschickt ist, den Preis drücken. Fasbender idealisiert die russische Wirklichkeit nicht. Er kennt die Leere und Vulgarität der Superreichen, die ihre Maßstäbe für ein gutes Leben westlichen Illustrierten entnehmen, weil sie keine anderen haben. Doch auch in ihrem Fall verteilt der Autor keine Zensuren, sondern er liefert Erklärungen und ermöglicht ein Verstehen.
Mehr Freiräume, als in vielen formal demokratischen Staaten
Und wo bleibt die Freiheit, wenn sie sich in den formalen Regeln der Demokratie nicht verwirklichen läßt? Rußland ist, darauf verweist Fasbender mit Nachdruck, keine Diktatur und erst recht kein totalitärer Staat. Es gibt eine Arbeitsteilung, die auch aus der deutschen Geschichte bekannt ist: Der Staat soll für Ordnung sorgen, sich aber nicht in das Privatleben einmischen. Dafür schuldet man ihm Loyalität und steckt seine Nase nicht in staatliche Angelegenheiten. So entsteht ein gleichgewichtiges Einverständnis, das zwar nicht demokratisch ist, aber mehr Freiräume eröffnet, als in vielen formal demokratischen Staaten existieren.
Der Autor kennt das russische Tag- und Nachtleben, die Kultur, die russische Weite, die Neigung zur Spiritualität. Die Banja, das Schwitzbad, schildert er als Ort der Erfüllung. Seine Beschreibungen russischer Gerichte und ihrer Zubereitung besitzen literarisches Niveau und geraten zu einer metaphorischen Kulturgeschichte und Lebensphilosophie. Ein großartiges Buch!
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Thomas Fasbender: Freiheit statt Demokratie. Rußlands Weg und die Illusionen des Westens. Lichtschlag in der Edition Sonderwege. Manuscriptum Verlagsbuchhandlung. Waltrop und Leipzig 2014, broschiert, 361 Seiten, 19,80 Euro. Zu beziehen auch im JF-Buchdienst.
JF 52/14-01/15