BRÜSSEL. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten haben das gewaltsame Vorgehen gegen regierungskritische Demonstranten in der Türkei verurteilt. EU-Außensprecherin Catherine Ashton sprach in einer Stellungnahme am Sonntag von einem „unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch Mitglieder der türkischen Polizei“. Sie rief alle Beteiligten dazu auf, sich „um eine friedliche Lösung der Angelegenheit“ zu bemühen.
Auch das Weiße Haus forderte die türkische Regierung zur Mäßigung auf. Friedliche Demonstrationen seien Ausdruck der Meinungsbildung in einer Demokratie, sagte eine Sprecherin. Daher erwarte man Zurückhaltung seitens der türkischen Polizei. Hintergrund sind die seit Freitag andauernden, sich inzwischen landesweit ausbreitenden Proteste gegen den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Erdogan droht mit Gegendemonstrationen
Anlaß für die Proteste war die Zwangsräumung des Gezi-Parks am Taksim-Platz in Istanbul. Dessen historischer Baumbestand soll für ein Einkaufszentrum gefällt werden, wogegen Umweltschützer mit einer Parkbesetzung protestiert hatten. Als die Polizei am Freitag den Park mit Härte räumte, weiteten sich die Proteste zu einer landesweiten Bewegung aus. Die Demonstranten werfen der Regierung Erdogan eine autoritäre Führung und den Umbau der Türkei zu einem islamischen Staat vor.
Erdogan rief die Bevölkerung am Montagvormittag zur Ruhe auf. Niemand solle sich von „extremistischen Elementen“ provozieren lassen: „Bleiben Sie ruhig, entspannen Sie sich, all das wird sich wieder legen.“ Am Wochenende hatte er ein unverhältnismäßiges Vorgehen der Polizei eingeräumt, allerdings seine Pläne zur Bebauung des Gezi-Parks bekräftigt. Nun soll statt eines Einkaufszentrums möglicherweise eine Moschee gebaut werden. Den Demonstranten drohte er mit Gegendemonstrationen seiner Basis.
Schwerste Unruhen seit zehn Jahren
Laut Innenminister Muammer Güler wurden bisher 1.700 Personen zeitweilig festgenommen. Insgesamt habe man bisher 235 Kundgebungen in 67 Städten registriert. Insgesamt seien bei den Straßenschlachten 58 Zivilisten und 115 Polizisten verletzt worden. Regierungskritiker halten die Zahlen für unrealistisch. Amnesty International spricht von 1.000 Verletzten und mindestens zwei Toten. Alleine die Ärztegewerkschaft in Ankara, welche verletzte Demonstranten versorgt, sprach von mehreren hunderten Verletzten.
Beobachter sprechen von den schwersten Unruhen in der Türkei seit zehn Jahren. Auch in Deutschland zeigen sich die Auswirkungen. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özguz appellierte an die türkische Regierung, „die in den vergangenen Jahren erreichten Fortschritte bei der Demokratisierung und Modernisierung des Landes nicht in Frage zu stellen“. Erdogan, dessen dritte und damit letzte Amtszeit als Ministerpräsident ausläuft, soll laut Medienberichten nach russischem Vorbild das Amt des Staatspräsidenten anstreben. (FA)