„Waterloo“, „Begräbnis der politischen Klasse“, „bedingungslose Kapitulation“, „gravierende politische und ideologische Niederlage“: Die Kommentare zum Abschluß der im vergangenen Oktober von Staatspräsident Nicolas Sarkozy ausgerufenen „großen Debatte über die nationale Identität“ fallen eindeutig und einhellig aus. Echte Ergebnisse hat diese Debatte nicht gebracht, und ob der beschlossenen Maßnahmen weiß man kaum, ob man lachen oder weinen soll.
So verkündete Ministerpräsident François Fillon, der die Debatte als „vorbildlich“ bezeichnete, ohne eine Miene zu verziehen, künftig solle in jedem Klassenzimmer eine Kopie der Menschenrechtserklärung von 1789 hängen und jedem Schüler ein „Jungbürger-Paß“ überreicht werden. „Mindestens einmal im Jahr“ soll an den Schulen die Marseillaise gesungen werden. Einbürgerungen sollen „nach amerikanischem Vorbild“ mit einer Zeremonie im Rathaus gefeiert werden. Nach dem Willen der Verantwortlichen komme der Staatsbürgerschaft eine ähnliche Funktion zu „wie der Straßenverkehrsordnung: Erziehung, Prävention, Bestrafung“.
Wer eine Antwort auf die ursprünglich gestellte Frage erwartete: „Was bedeutet es, Franzose zu sein?“, wurde erwartungsgemäß enttäuscht. Die Frage freilich bewegt die Franzosen, und eine Debatte darum war überfällig. Einer kürzlich veröffentlichten Umfrage zufolge glauben 76 Prozent der Franzosen, daß es eine nationale Identität gibt (30 Prozent der Befragten führten dafür kulturelle Besonderheiten an, 28 Prozent geographische Kriterien, 24 Prozent historische Elemente, 21 Prozent institutionelle und politische Faktoren, 20 Prozent „humanistische Werte“ und nur drei Prozent religiöse Faktoren)
Die Linke protestierte lautstark
Daß Sarkozy die Debatte wenige Monate vor den Regionalwahlen im Mai angestoßen hat, ist kein Zufall. Der Präsidentschaftswahlkampf 2007 hat gezeigt, daß „nationale Identität“ vielen Wählern ein wichtiges Anliegen ist. Indem er sie zur Chefsache erhob, konnte Sarkozy dem Front National Stimmen abspenstig machen. Dasselbe Manöver hoffte er nun zu wiederholen – doch ohne Erfolg.
Während die Linke lautstark protestierte, diese Debatte habe lediglich dazu geführt, die sechs Millionen Muslime, die inzwischen in Frankreich leben, noch ein bißchen mehr zu „stigmatisieren“, wurden Stimmen und Meinungen aus dem rechten Spektrum systematisch ausgegrenzt. Sowohl bei den Diskussionen im Internet als auch bei den 350 öffentlichen Veranstaltungen, die in Präfekturen und Unterpräfekturen stattfanden, wurden kritische Äußerungen zur Einwanderung umgehend zensiert. Dabei hieß es stets, die Debatte werde „unter Achtung der Meinungsfreiheit jedes einzelnen“ geführt.
In der Konfrontation gegensätzlicher Ansprüche buhlte die Regierung zuvorderst um die Gunst derjenigen, die schon die Grundlagen dieser Debatte in Frage stellen. Deswegen war man stets peinlich darauf bedacht, „nationale Identität“ auf die „republikanischen Werte“ zu reduzieren (Laizismus, Schutz der Menschenrechte etc.). Diese Werte aber sind an einen bestimmten Moment in der französischen Geschichte gebunden. Heute stehen sie im luftleeren Raum und werden ausschließlich ideologisch hergeleitet, wobei Patriotismus augenscheinlich keinerlei Rolle spielt.
Sarkozys Manöver ist auf ganzer Linie gescheitert. Die linke Opposition ist keinen Deut von ihren Positionen abgewichen. Die Presse, die die Debatte zunächst wohlwollend verfolgt hat, macht aus ihrer Enttäuschung kein Geheimnis. Der Front National, den man eigentlich schwächen wollte, geht eher gestärkt aus den Erfahrungen der vergangenen Monate hervor. Einen deutlicheren Beweis ihrer Unfähigkeit, den Begriff der nationalen Identität mit irgendeinem substantiellen Gehalt zu füllen, hätte die bürgerliche Regierung kaum liefern können.
Der zuständige Einwanderungsminister Eric Besson, in Marokko geborener Sohn eines Franzosen und einer Libanesin und bis 2007 Mitglied der Sozialistischen Partei, äußerte sich am 5. Januar folgendermaßen: „Frankreich ist weder ein Volk noch eine Sprache, noch ein Gebiet, noch eine Religion. Es ist ein Sammelsurium von Völkern, die zusammenleben wollen. Es gibt keine angestammten Franzosen, sondern es gibt Frankreich nur als Gemisch aus Menschen unterschiedlicher Herkunft.“ Befremdliche Worte, die nicht zuletzt der Staatsverfassung widersprechen, deren erster Satz sie ausdrücklich auf das „französische Volk“ bezieht (und die die Justiz darauf verpflichtet, „im Namen des französischen Volkes“ zu handeln).
„Mich persönlich läßt das alles kalt.“
Sarkozy wiederum, der jüngst erklärte, er sei zum Präsidenten gewählt worden, „um die französische nationale Identität zu verteidigen“, schrieb 2006: „Ich glaube, daß die Franzosen sich ein neues Frankreich wünschen (…) Ein Frankreich, in dem der Begriff ‘angestammter Franzose’ nicht mehr existiert.“
Schon 1999 gestand er seinem alten politischen Rivalen Philippe de Villiers, der heute für Libertas im Europaparlament sitzt: „Du hast Glück, Philippe, daß du Frankreich liebst, seine Geschichte, seine Landschaften. Mich persönlich läßt das alles kalt. Ich interessiere mich nur für die Zukunft.“
Wenn das einzige Fazit aus der Debatte lautet, daß Frankreich „weder ein Volk noch eine Sprache, noch ein Gebiet, noch eine Religion“ ist – was ist es dann? Ein Übergangsort? Eine anonyme Gesellschaft? Ein Supermarkt? Das Frankreich der Zukunft wird, so hat es derzeit den Anschein, aussehen wie Brasilien.
JF 8/10
Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“.