Es ist der Offenbarungseid einer einstmals stolzen Volkspartei. In Niedersachsen wurde die SPD nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründet, hier prägten lange Zeit sozialdemokratische Ministerpräsidenten wie Hinrich Wilhelm Kopf („der rote Welfe“) die politische Landschaft, hier fuhr Gerhard Schröder bei der Landtagswahl 1998 ein Ergebnis von fast 48 Prozent ein, mit dem er den Grundstein zur rot-grünen Koalition im Bund legte. Von einer solchen Erfolgsgeschichte ist die SPD zwischen Ems und Elbe, Nordsee und Harz mittlerweile Lichtjahre entfernt.
Bis jetzt warfen drei Bewerber um den Vorsitz ihren Hut in den Ring, die sich dem Parteitag im Mai als Konkursverwalter der roten Resterampe empfehlen möchten: die beiden Landtagsabgeordneten Olaf Lies und Stefan Schostok sowie der selbsternannte „Parteirebell“ Stefan Preuße. Letzterer hat zwar bisher keinerlei Funktion inne, ist aber immerhin außerhalb der Partei auch nicht unbekannter als seine beiden aussichtsreicheren Rivalen. Nötig wurde diese überhastete „Neuaufstellung“ durch den Rückzug des Landeschefs Garrelt Duin, der Ende Januar seinen Verzicht auf eine Wiederwahl erklärt hatte. Als Begründung führt er den schwierigen „Spagat“ zwischen Parteiamt und Bundestagsmandat an, ein kaum verhohlenes Eingeständnis, gescheitert zu sein.
Duin, der Rollkoffer-Schlepper, der politisch Obdachlose, sei stets auf Achse zwischen Berlin, seinem ostfriesischen Wahlkreis und der Parteizentrale in Hannover gewesen, immer unterwegs, nirgendwo daheim, heißt es. Den Unmut von Basis und Funktionärsmittelbau hatte er sich zugezogen, als er bei der Landtagswahl 2008 nicht Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) herausforderte und statt dessen den altlinken Wolfgang Jüttner (nochmal) vorschickte, der chancenlos war. Duin selbst sprach im nachhinein von seinem „größten Fehler“.
Den sehen Beobachter jedoch eher im blamablen Umgang mit seiner Stellvertreterin Swantje Hartmann – einer Auseinandersetzung, welche die niedersächsische SPD ein Jahr lang, vom Mai 2008 an, in Atem hielt. Die Zutaten der Affäre in Kurzform: eine Bahn-Card und ein Handy, die der Partei gehörten und von denen die Vize-Vorsitzende Hartmann angeblich privat profitiert haben soll, sowie die finanziellen Ungereimtheiten in der Amtsführung eines Ex-Parteigeschäftsführers, zugleich Hartmanns Ex-Freund; mehr – offiziell – nicht. Warum sollte wegen einer solchen Bagatelle eine junge Hoffnungsträgerin, ein allseits gelobtes Nachwuchstalent, das bereits im Alter von 28 Jahren Bürgermeisterin geworden ist und mit 43,1 Prozent direkt in den Landtag zog, fallengelassen werden?
Kein Wunder, daß bei dieser Ausgangslage Gerüchte und Spekulationen ins Kraut schossen. Wollte der Vorsitzende aus seiner Stellvertreterin mehr machen als nur eine politische Weggefährtin? Auffallend war, daß es zum Bruch zwischen Duin und Hartmann nur kurze Zeit nach einer Parteiklausur auf der Insel Borkum kam, bei der die Kontrahenten noch einträchtig für die Presse im Strandkorb posiert hatten.
Über Monate hatte Duin Hartmann zum Rücktritt und zur Aufgabe des Landtagsmandats gedrängt; doch die weigerte sich, sprach von einer Intrige und bestand auf einem ordentlichen Verfahren. Eine parteiinterne Untersuchung entlastete die stellvertretende Vorsitzende schließlich. Der Tenor in den Medien war einhellig: Die Affäre Hartmann war zu einer Affäre Duin geworden, der Landesvorsitzende hatte als Krisenmanager vollkommen versagt, sein Ansehen endgültig demontiert. Weder hatte er sich gegen die mächtigen Bezirksfürsten – darunter den jetzigen Bundesvorsitzenden Sigmar Gabriel – durchsetzen können, deren Kompetenzen er zugunsten seiner Zentrale beschneiden wollte, noch war er mit seiner widerspenstigen Stellvertreterin fertiggeworden. Mehr Blamage ging nicht, dachte man. – Ging doch, wie sich kurze Zeit darauf zeigte.
Die CDU hatte längst Fühlung zu der isolierten Noch-Genossin Hartmann aufgenommen und deren Seitenwechsel nach allen Regeln der Konspiration vorbereitet. Während sich die SPD-Abgeordneten schon auf die parlamentarische Sommerpause einstimmten, trafen sich unweit des Landtags einige „Fahrlehrer“ – in Wirklichkeit die Spitzen der CDU-Landtagsfraktion – gemeinsam mit der Delmenhorster Abgeordneten.
Am 18. Juni 2009 erklärte die ihren Austritt aus der SPD: „Die Sozialdemokratie ist nicht mehr meine politische Heimat“, da ihr „eine von gegenseitigem Respekt geprägte innerparteiliche Streitkultur abhanden gekommen“ sei, schrieb sie zum Ende ihrer 19jährigen Parteizugehörigkeit. Eine Woche später nahm sie der CDU-Kreisverband auf, damit wurde Hartmann automatisch Mitglied der schwarzen Fraktion im Hannoveraner Leineschloß. Für diesen „Tag X“ war bereits alles vorbereitet, samt passendem Internetauftritt im christdemokratischen Orange. Die SPD war von diesem Coup, den die Konkurrenz eingefädelt hatte, offenbar völlig überrascht worden.
Daß sie den Frontenwechsel ihrer ehemaligen Vizevorsitzenden immer noch nicht verarbeitet hat, zeigte sich vor zwei Wochen: Ende Januar erreichte Hartmann ein Schreiben der SPD-Schatzmeisterin Barbara Hendricks, die mitteilte, sie würde sich freuen, wenn Hartmann ihren Austritt überdenken würde. Ihrem persönlich unterschriebenen Brief legte Hendricks ein Formular für den Wiedereintritt bei. Die CDU-Abgeordnete, Mitglied im Ausschuß für Rechts- und Verfassungsfragen, lehnte das Angebot dankend ab. Für Garrelt Duins Nachfolger an der Spitze der Niedersachsen-SPD wird es eine Menge zu tun geben.