Hamburgs Eltern sind sauer. Mit seiner geplanten Schulreform hat sie der Senat der Freien und Hansestadt auf die Barrikaden gebracht. Objekt ihres Zorns: die schwarz-grüne Koalition, die seit nunmehr fast zwei Jahren die Elbmetropole regiert.
„Wir wollen nicht die Versuchskaninchen von Ideologen werden“, bringt es eine Mutter aus dem Bezirk Eimsbüttel auf den Punkt. Ihr acht Jahre alter Sohn Daniel (Name von der Redaktion geändert) besucht die Grundschule Tornquiststraße. Sie möchte „lieber anonym bleiben“, will es sich mit der Schule nicht „verderben“. Geht es nach dem Willen des Senats, besucht ihr Sohn ab dem 1. August 2010 keine Grundschule mehr. Die Bildungseinrichtung wird sich Primarschule nennen. Dann kann Daniel erst zwei Jahre später auf eine weiterführende Schule wechseln, denn die Primarschule ist statt auf vier auf sechs Jahre angelegt. „Er ist schon jetzt unterfordert“, meint seine Mutter. Sie fürchtet, daß es für ihren Sohn zwei verlorene Jahre werden. „Er muß zum Gymnasium, je früher, desto besser.“ Daniels Eltern wollten ihren Sohn schon nach der vierten Klasse dort hinschicken.
Mit der neuen Schulreform wird ihnen diese Entscheidung genommen. Künftig soll die Zeugniskonferenz über Daniels Bildungsweg entscheiden. „Für ihn ist das nicht weiter tragisch“, ist seine Mutter überzeugt. Aber: „Was ist mit Kindern, die auf der Kippe stehen?“ Da werde über Schicksale entschieden. „Und Lehrer können auch irren“, unterstreicht die Eimsbüttlerin.
Wer von den Pädagogen keine Gymnasialempfehlung bekomme, wird künftig die sogenannte Stadtteilschule besuchen. Hauptschulen und Realschulen wird es nicht mehr geben. Einheitsschule wird die neue Stadtteilschule von ihren Kritikern verächtlich genannt. Genau die hatte die CDU abgelehnt – zumindest vor der Bürgerschaftswahl. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit wurde alles anders. Bürgermeister Ole von Beust (CDU), der 2001 noch mit der Schill-Partei koalierte, zeigte seine inhaltliche Flexibilität und holte 2008 nach dem Verlust der absoluten Mehrheit die Grünen ins Regierungsboot.
Ebendieser Verbindung, die zur Hamburger Schulreform führte, zeigen immer mehr empörte Hanseaten die rote Karte. Am 19. September vergangenen Jahres demonstrierten mehr als 6.000 Bürger gegen die Pläne des Senats. Ein von der Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ initiiertes Volksbegehren war überaus erfolgreich und wurde jetzt vom Senat formell anerkannt. 184.500 Unterschriften hat die Bürgerinitiative gegen die Primarschul-Pläne in der äußerst kurzen Zeit von nur drei Wochen zusammengetragen – mehr als dreimal so viele wie für das Volksbegehren benötigt. Einer Umfrage zufolge unterstützen 60 Prozent der befragten Hamburger die Ziele der Bürgerinitiative gegen die Primarschule. Selbst unter den Wählern der Linken stößt die Schulreform demnach nicht auf ungeteilte Zustimmung. 47 Prozent der Linkspartei-Anhänger und 25 Prozent der Grünen-Wähler lehnen die Primarschule ab.
Ließen Ole von Beust und Schulsenatorin Christa Goetsch (Grüne) die Proteste anfangs kalt, so kommt es seitens des Senats jetzt offenbar zu einem Einlenken. Derzeit laufen Gespräche zwischen Bürgerinitiative und Senat. Auch deshalb halten die Primarschulgegner momentan gegenüber den Medien Funkstille. „Wir wollen die Gespräche mit dem Senat nicht unnötig belasten“, sagt „Wir wollen lernen“-Kampagnenleiter Frank Solms Nebelung gegenüber der JUNGEN FREIHEIT.
Treiben in Hamburg die Primarschulen Eltern auf die Straße, so sind es in Schleswig-Holstein Gemeinschaftsschulen, die nicht wenige verunsichern. Auch sie gelten als Einheitsschulen, also als Schulen, in denen die klassische Dreigliedrigkeit faktisch aufgehoben ist. „Viele Eltern sind unaufgeklärt“, sagt Ulrich Kliegis, Vorsitzender vom Deutschen Elternverband Schleswig-Holstein. Gleiches gelte für zahlreiche Kommunalpolitiker. Insbesondere Christdemokraten hätten sich von zumeist links angesiedelten sogenannten Experten „beschwatzen“ lassen – etwa von Reinhard Kahl, einem der Frankfurter Schule entsprungenem linken Alt-Achtundsechziger, der als sogenannter Bildungsjournalist mit seinem Film „Auf der Suche nach der Schule der Zukunft“ durch die Republik reist und die Werbetrommel für Einheitsschulen rührt. „Ein begnadeter Rhetoriker“, nennt ihn Ulrich Kliegis und einen „Demagogen sondergleichen“. „Schlimm“ bezeichnet er die Konsequenzen, die sich durch Einheitsschulen für das Bildungsniveau der Schüler ergeben.
Werden auf Gesamtschulen die Schüler zumindest noch in leistungsdifferenzierenden Kursen unterrichtet, so fällt dies bei der Gemeinschaftsschule völlig weg. „Da sollte es eine Tandem-Lösung geben“, erklärt Kliegis. Will heißen: Die Schüler werden je nach Leistungsstärke von mehreren Lehrern unterrichtet. „Dabei war von Anfang an klar, daß diese Ideen überhaupt nicht zu finanzieren sind.“ Inzwischen herrsche in Schleswig-Holstein ein „Heulen und Zähneklappern“, nicht wenige sehnten sich nach den traditionellen Schulformen zurück. Der Grund: In zahlreichen Schulen fehlen die für das Konzept vorgesehenen Räume und Lehrkräfte. Die Folge: Einstige Gymnasiasten sowie Haupt- und Realschüler büffeln jetzt gemeinsam, zum Teil bis zum Abitur. Noten werden bis Klasse acht nicht vergeben. „Statt dessen erstellen Lehrer Leistungsberichte, die nichts Negatives enthalten dürfen“, erzählt Kliegis – linke Prestige-Objekte, umgesetzt mit dem Segen der schleswig-holsteinischen CDU, die der Entwicklung hilflos gegenüberstehe. Kliegis: „Die haben kein Konzept.“
Und Alternativen wie etwa der Erhalt von Realschulen als Angebotsschulen sollen abgeschafft werden. Der Verband Deutscher Realschullehrer läuft gegen die Verhältnisse Sturm, sammelt wie in Hamburg Unterschriften, um ein Volksbegehren für den Erhalt der Realschulen auf den Weg zu bringen.
Die Idee der Gemeinschaftsschule stammt bereits aus den zwanziger Jahren. Ihre Vorläuferin, die Jena-Plan-Schule, war als Erziehungsinstrument für den Aufbau einer nationalsozialistischen Gesellschaft gedacht, hatte Kliegis herausgefunden. Ihr Erfinder, der den Nationalsozialisten nahestehende Reformpädagoge Peter Petersen, „legte die Schule so an, daß schon allein durch ihre Struktur Demokratie, liberales Denken und Individualität unterdrückt wurden“, schreibt Kliegis auf der Internet-
seite Gemeinschaftsschule aktuell. Und weiter heißt es: „Alle charakterlichen Merkmale der heutigen Gemeinschaftsschule finden sich bereits im Jena-Plan-Konzept von 1927 wieder.“
Daß die totalitären Ideen von den Grünen aufgegriffen wurden, ist für Kliegis kein Wunder. Schließlich seien zahlreiche Grünen-Funktionäre früher in kommunistischen Gruppen aktiv gewesen, die Freiheit und Demokratie ebenfalls abgelehnt hätten. Kliegis: „Die Grünen brachten die Gemeinschaftsschule ins Spiel, die SPD hatte die Idee später übernommen.“ Auch die Primarschule sei von Petersen bereits 1919 konzipiert worden, so Kliegis.
Nach Ansicht von Wolfgang Kuert vom niedersächsischen Elternverein wird 2010 dagegen „das Jahr sein, in dem die Lügen der Einheitsschule zusammenfallen werden“. Schließlich sprächen die Zahlen für sich. So scheiterten im Jahr 2007 rund 40 Prozent der Gesamtschüler am Zentralabitur – eine Durchfallquote, die 256 Prozent höher ausfällt als an den Gymnasien.
Auch in Niedersachsen war die CDU vor der Gesamtschul-Lobby eingeknickt. Ministerpräsident Christian Wulff selbst war es, der die Lockerung des Neuerrichtungsverbotes für Gesamtschulen vorgeschlagen hatte. Nun scheint er die Geister nicht wieder loszuwerden, die er selbst gerufen hat. „Keine Ahnung, was ihn da geritten hat“, gibt Kuert das Unverständnis darüber wieder, das nicht wenige Christdemokraten mit ihm teilen. Bisher ist der Anteil an Gesamtschulen an den weiterführenden Bildungseinrichtungen nur unwesentlich von fünf auf sieben Prozent gestiegen. Doch er dürfte sich bald erhöhen. Zahlreiche Gesamtschul-Initiativen wittern inzwischen trotz schwarz-gelber Koalition Morgenluft und setzen ihre favorisierte Schulform teilweise sogar mit Zustimmung der CDU durch. Ein am 13. November 2009 angelaufenes und von SPD, Grünen, Linkspartei sowie GEW unterstütztes Volksbegehren hat unter anderem zum Ziel, die Errichtung von Gesamtschulen weiter zu erleichtern.
Pisa-Lob für die Realschule
„Dabei zeigen die Pisa-Ergebnisse auf, daß Realschulen gegenüber integrierten Gesamtschulen im Unterrichtsstoff am Ende bis zu ein Jahr voraus sind, die Gymnasien sogar drei Jahre“, erklärt Kuert, der zu bedenken gibt, daß nur 31 Prozent der Eltern die Einheitsschule wollten. Selbst unter SPD-Anhängern befänden sich deren Befürworter in der Minderheit. Nur 39 Prozent würden ihr eigenes Kind auf eine Einheitsschule schicken. Nicht zufällig gehen auch die Kinder von Linken-Fraktionschef Gregor Gysi oder der SPD-Linken Andrea Ypsilanti aufs Gymnasium.
Weitere Informationen im Internt unter www.gemeinschaftsschule-aktuell.de und www.wir-wollen-lernen.de
Foto: Schüler und Eltern demonstrieren im September 2009 in Hamburg gegen die Reform: „Auch Lehrer können irren“