Im Dezember wird sich jenes Treffen des Europäischen Rats in Helsinki zum zehnten Mal jähren, bei dem die EU-Staats- und Regierungschefs feierlich beschlossen hatten, 60.000 Soldaten aufzustellen, die „jederzeit binnen 60 Tagen einsatzbereit sind“. Schon 2003 hätte es soweit sein sollen. Doch geschehen war bis dahin – und so ist es auch bis heute – so gut wie nichts. Zwar gibt es zwei „Battle Groups“ von jeweils 1.500 Soldaten – eine Streitmacht auf dem Papier. Im Einsatz waren diese schnellen EU-Truppen noch nie. Dabei gab es bei jeder der bisher fünf militärischen EU-Operationen ein zeitraubendes Hin und Her um die Frage, welches EU-Land wie viele Soldaten nach Afrika oder auf den Balkan schicken sollte.
Meist zeigte sich, daß die Realität der nationalen Zwänge, Rücksichten und Befindlichkeiten (und oft auch ganz banaler Ausrüstungsmängel) stärker war als die verbalen Luftbuchungen der berufsmäßigen Eurokraten. So verspürten etwa London und Berlin wenig Lust, Hubschrauber für die EU-Mission Eufor-Tschad bereitzustellen. Beide Staaten stimmten zwar wie alle anderen EU-Mitglieder dem Einsatz zum Schutz von Flüchtlingen und intern Vertriebenen zu, sahen darin aber vor allem eine „französische Mission“. Denn der Tschad ist „Frankreichs Einflußsphäre“, Paris protegiert dessen Präsidenten Idriss Déby. Auch die Mission „Eupol Afghanistan“ läßt sich bislang kaum als großer Erfolg verbuchen. Auch sie wird wie andere internationale Einsätze unter der Flagge der EU ihrer eigenen Probleme nicht Herr.
120.000 Soldaten, binnen 60 Tagen einsatzbereit
Dort, wo nicht politisch gehandelt, sondern wo gedacht, geprüft und projiziert wird, sind Institutionen der EU wesentlich kühner: Die EU brauche „120.000 Soldaten, binnen 60 Tagen einsatzbereit; eine eigene Flotte militärischer Hubschrauber und Transportflugzeuge, einen EU-Nachrichtendienst, der diese Missionen über militärische und politische Risiken informiert“ – und natürlich ein EU-Wehrbudget, um all dies zu bezahlen: So sollte nach Ansicht des Europäischen Instituts für Sicherheitsstudien (EUISS) der Kern der EU-Verteidigungspolitik im Jahr 2020 aussehen, damit sich Europa künftig vor militärischen und terroristischen Bedrohungen schützen und seine außenpolitischen und wirtschaftlichen Interessen sichern kann – ob es um den Schutz verfolgter Minderheiten, die europäische Rohstoffsicherheit oder die Verteidigung der Schiffahrtswege gegen Piraten geht.
„Der Ehrgeiz der Union sollte nicht in einem Miniverteidigungsprojekt bestehen, das von den militärisch Stärksten angeführt wird, sondern in einer mächtigen Außen- und Sicherheitspolitik, die das Gewicht aller Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen bündelt“, schreibt Álvaro de Vasconcelos, der Direktor des EUISS, einer EU-Agentur mit Sitz in Paris, die den EU-Rat berät, in einer umfangreichen Studie mit dem Titel „What Ambitions for European Defence in 2020?“. Ein Vorwort dazu schrieb der seit zehn Jahren amtierende Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP), der spanische Sozialist und Ex-Nato-Chef Javier Solana de Madariaga.
Wozu also muß die europäische Verteidigungspolitik im Jahr 2020 imstande sein? Einige Beiträge der Studie der Pariser Denkfabrik EUISS über die Perspektiven der EU-Verteidigungspolitik bis 2020 sorgen für Aufregung. Besonders brisant ist der Beitrag „The globalising security environment and the EU“ von Tomas Ries, Direktor des schwedischen Institute of International Affairs, in dem er zunehmende Auseinandersetzungen zwischen reichen und armen Bevölkerungen vorhersieht.
Militärische Grenzsicherung gegen illegale Einwanderer?
Ries weist darauf hin, daß es zu den Aufgaben der GASP gehören wird, die reichen Staaten vor „Spannungen und Problemen der Armen“ zu schützen – das rief bei Linken, die „globalen Klassenkampf“ befürchten, und anderen Kritikern Empörung hervor. Der schwedische Sicherheitsexperte schreibt in der Tat Klartext: Militärische Sperroperationen „werden unvermeidlich sein, wenn es uns nicht gelingt, die Probleme an ihrer Wurzel zu lösen“, nämlich in den armen Staaten selbst. Freilich sei fraglich, ob „die EU im Jahr 2020 noch den Willen zur Anwendung intensiver militärischer Gewalt“ aufbringen werde, um den Ansturm aus armen Ländern aufzuhalten.
Politiker scheuten sich vor klaren Worten, „weil diese harten Tatsachen unerfreulich und traurig sind – daß man verzweifelte Menschen zurückschickt, wenn sie nur ein besseres Leben suchen“, erläuterte Ries in einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Der Standard. „Einerseits macht es unsere liberale, immer ‘weichere’ Einstellung für die Regierungen der betreffenden Staaten schwieriger, sich an militärischen Sperroperationen zu beteiligen. Andererseits kann aber auch damit gerechnet werden, daß die Bevölkerung, wenn sie sich von der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation direkt betroffen fühlt, solche Einsätze wieder stärker unterstützt und vielleicht auch fordert.“
Angesichts dieser Schwierigkeiten müsse sogar in Erwägung gezogen werden, „militärische Missionen zu starten, bevor alle politischen Entscheidungen dazu getroffen wurden, damit es zu keinen Verzögerungen kommt“, heißt es auf Seite 157 in der Studie wörtlich.
Die EUISS-Studie im Internet unter www.iss.europa.eu/uploads/media/What_ambitions_for_European_defence_in_2020.pdf