Dieses Buch enthüllt ein Geheimnis“, verspricht Volker Zastrow auf der Rückseite seines 400-Seiten-Werks über den Sturz der hessischen SPD-Beinahe-Wahlsiegerin Andrea Ypsilanti durch vier Abgeordnete ihrer eigenen Partei, die sie nicht zur Ministerpräsidentin einer von den Kommunisten tolerierten rot-grünen Koalition wählen wollten. „Die Vier“ ist aber weit mehr als ein schnelles journalistisches Enthüllungsbuch. Es ist ein durch und durch wahrhaftiges Sittenbild der Politik, ein Roman, an dem kein Jota erfunden ist, eine Geschichtsdarstellung, die scharf und verstehend tief in die Herzen der Personen blickt, kurz: ein Stück große Literatur.
Ursprünglich sollte es eine „Heldengeschichte“ werden, bekennt der Politikchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Nachwort. Viele intensive Interviews später wurde das Bild differenzierter. „Die Vier“, die er im ersten Kapitel („einmal vier“) als Gruppe vor dem entscheidenden Moment ihrer Karriere zeichnet, deren Biographien er im „viermal eins“ untertitelten zweiten Teil gründlich ausleuchtet – sie entpuppen sich im Schlußkapitel als „zweimal zwei“ Akteure, zwei Personenpaare mit durchaus unterschiedlichen Motivlagen.
Zastrow zeichnet seine Figuren mit scharfer Feder, beißend, aber nie polemisch. Den smarten, selbstbezogenen, ewig-jugendlich auftretenden Jürgen Walter, für den gelungene Politik ist, einen anderen aufs Dach zu locken und ihm die Leiter wegzuziehen; einer, der sich „seiner Klugheit freut“, aber jenseits der vierzig endlich den nächsten Karriereschritt gehen will. Siegertyp Walter kann es nicht verwinden, daß die „ein bißchen doofe“ Ypsilanti, die er unterschätzt und verachtet hatte, ihm die Spitzenkandidatur abgenommen hatte. Oder Carmen Ewerts, einst häßliches Entlein, die in seinem Gefolge zur talentierten Strippenzieherin wird und weiter nach oben will. Auf der anderen Seite Dagmar Metzger, aus altem Sozialdemokraten-Adel, nicht uneitel über den Zuspruch aus der Bevölkerung über ihren Anti-Links-Kurs, der aber auch deshalb unumkehrbar wird, weil Walter ihre Zweifel früh der Presse steckt. Und die korrekte und verletzliche ur-sozialdemokratische Handwerkerfrau Silke Tesch, die als Kind ein Bein verloren hatte.
Zastrow beschreibt Politik als Ergebnis des Zusammen- und Gegeneinanderspiels von Personen, nicht von Strukturen und Prozessen. Milieus und Strömungen charakterisiert er über genau gezeichnete Miniaturen der Nebenfiguren. „Wie kann man erfassen, mit welchen Augen jemand die Welt sieht?“ ist eine seiner Leitfragen. Es gelingt ihm in Charakterbildern wie dem von Walters Gegenspieler Gernot Grumbach, dem Altachtundsechziger und „sozialdemokratischen Nebenbeamten“, der die Wonnen der Bürgerlichkeit auskostet und auf die „kleine Handwerkerin“ Tesch herabsieht. Auch skurrile Szenen gehören dazu – wie der vergebliche Versuch einer von Thorsten Schäfer-Gümbel engagierten „Coaching“-Firma, die gespaltene Fraktion mit Powerpoint und Phrasen wieder zusammenzuschweißen.
Ach ja, das Geheimnis. Zastrow hat herausgefunden, daß Jürgen Walter im Sommer 2008 Ypsilantis zweiten Anlauf zur Machtübernahme selbst forciert hatte, um doch noch Wirtschaftsminister zu werden, gleichzeitig die Kritiker des Linkspartei-Kurses bestärkt und schließlich, als sein Karrierewunsch platzte, ihr und sich selbst die Leiter weggezogen hatte. Zastrow macht glaubwürdig, daß CDU-Fuchs Roland Koch, der bei einer der „Vier“ sondieren ließ, selbst die Finger im Spiel hatte und deshalb stets informiert und gelassen war. Soweit die „Intrige“ aus dem Untertitel.
Wem die ernüchternd banale Oberfläche der politischen Fallenstellerei genügt, dem reicht wohl die Presseberichterstattung über „Die Vier“, die Reaktionen und Dementis. Wer dagegen erfahren will, wie der Politikbetrieb in Versammlungen, Sitzungen und Apparaten funktioniert, wie es in den Akteuren aussieht, was sie antreibt, der kaufe Zastrows Buch und stelle es noch vor Manfred Zachs Schlüsselroman „Monrepos“ ins Regal.
Volker Zastrow: Die Vier. Eine Intrige. Rowohlt-Verlag, Berlin 2009, kartoniert, 414 Seiten, 19,90 Euro