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Ein historisches Puzzle

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Es wurde still in dem Gerichtssaal, als der Angeklagte John Demjanjuk am ersten Verhandlungstag Ende November in einem Rollstuhl hereingefahren wurde. Mit zurückgelegtem Kopf, geschlossenen Augen, offenstehendem Mund und mit apathischer Miene wurde der 89jährige vor seinen irdischen Richter gebracht – einen weiteren seiner irdischen Richter.

Dem gebürtigen Ukrainer wird vorgeworfen, er habe 1943, vor 66 Jahren, als Hilfswilliger der SS und bewaffneter Wachmann im Vernichtungslager Sobibor zigtausend Deportierte von der Rampe mit den ankommenden Viehwaggons auf einer „Himmelsfahrtstraße“ direkt zur nahen Gaskammer getrieben, wo sie mittels Motorabgasen ermordet wurden. Betroffenheit machte sich – am folgenden Verhandlungstag – erneut breit, als die Namen der Opfer dieser ungeheuerlichen Mordmaschinerie verlesen wurden.

66 Jahre – das ist so lange her, als wären 1950 noch Vorfälle aus der Bismarck-Zeit vor Gericht verhandelt worden. Es gibt keinen einzigen lebenden Zeugen dafür, daß und wie genau John Demjanjuk an den Vorgängen in Sobibor beteiligt war. Die Anklage ist eine große historische Rekonstruktion. Es ist ermittelt, daß zigtausend Menschen aus den von Deutschland besetzten Gebieten oft allein aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit nach Sobibor deportiert und dort ermordet wurden. Ukrainische Wachleute galten allgemein als besonders grausam. John Demjanjuk, so die Mutmaßung der Ankläger, soll ein ukrainischer Wachmann gewesen sein. Darüber soll das Landgericht München II nun richten.

Demjanjuk bestreitet, überhaupt als Wachmann in Sobibor gewesen zu sein. Zweifelsfrei ist, daß er 1920 in Dubowi Macharynzi, einem kleinen ukrainischen Dorf, geboren wurde. Dort erlebte er den „Holodomor“. Im Jahr 1932 hatte Stalins Schwager Stanislaw Redens, Leiter der Geheimpolizei GPU in der Ukraine, den Auftrag erhalten, Kulaken und Konterrevolutionäre zu liquidieren und die Kollektivierung der Landwirtschaft durchzusetzen. Einsatzgruppen der GPU zogen über das Land und plünderten Bauernhöfe systematisch aus. Folge war eine Hungersnot, der mindestens 3,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Im Alter von 21 Jahren wurde John Demjanjuk 1941 zum Wehrdienst eingezogen. Ein Jahr darauf kam er in deutsche Kriegsgefangenschaft nach Chelm. In ebendieser Zeit starben zahlreiche Kriegsgefangene den Hungertod, weil die Wehrmacht die Versorgung der unerwartet zahlreichen Gefangenen nicht sicherstellen konnte. Demjanjuk sagt, er sei die folgenden zwei Jahre in Chelm geblieben, während die Ankläger behaupten, es sei unmöglich gewesen, dort so lange Zeit zu überleben.

Die Totenkopf-SS rekrutierte aus den Kriegsgefangenenlagern Hilfswillige, die sie in Trawniki zu Hilfskräften ausbildete und unter anderem zur Bewachung von Konzentrationslagern einsetzte. Daß John Demjanjuk dazugehörte, scheint ein Dienstausweis zu belegen, in dem auch seine Abkommandierung nach Sobibor vermerkt ist. Dieser Dienstausweis spielte schon in einem Verfahren gegen Demjanjuk vor 23 Jahren in Jerusalem eine Rolle, in dem er zum Tode verurteilt, in der Berufung aber freigesprochen worden war. Damals war ihm aufgrund dieses Dienstausweises vorgeworfen worden, in Treblinka eingesetzt gewesen zu sein und dort als „Iwan der Schreckliche“ Gefangene besonders bestialisch mißhandelt und ermordet zu haben. Fünf Überlebende hatten ihn eindeutig als „Iwan den Schrecklichen“ identifiziert. Die Aufhebung des Todesurteils erfolgte, weil inzwischen der wirkliche „Iwan der Schreckliche“ ermittelt worden war. Der hieß Martschenko und nicht Demjanjuk.

 Die Verteidigung erklärt den Dienstausweis schlicht für eine Fälschung des KGB, das Paßbild sei ersichtlich erst nachträglich auf den Ausweis aufgebracht worden. Die deutschen Ermittlungsbehörden indessen glichen die Angaben in dem Ausweis mit verschiedenen Überstellungs- und Belegungslisten ab und halten ihn zweifelsfrei für echt. Die Verteidigung beruft sich außerdem auf den fundamentalen rechtsstaatlichen Grundsatz des Verbots der Doppelbestrafung. John Demjanjuk sei wegen seines angeblichen Dienstes als Hilfswilliger der SS bereits in Jerusalem angeklagt und freigesprochen worden und könne wegen derselben Sache nicht erneut angeklagt werden.

Die Vorgänge in Sobibor haben die Gerichte bereits mehrfach beschäftigt. Der Kommandant Obersturmbannführer Franz Stangl wurde vom Landgericht Düsseldorf  1970 zu lebenslanger Haft verurteilt. Den „Gasmeister“ Erich Bauer verurteilte das Landgericht Berlin 1950 zunächst zum Tode. Bauer starb 1980 im Gefängnis. Erich Lachmann, Leiter der Wachmannschaft der Hilfswilligen und damit nach den Mutmaßungen der Ankläger Demjanjuks direkter Vorgesetzter, wurde 1965 durch das Landgericht Hagen vom Vorwurf des gemeinschaftlichen Mordes freigesprochen. Das Gericht hatte ihm einen Putativnotstand zugebilligt. Dieser liegt vor, wenn der Täter irrtümlich glaubt, daß er sich in einer Notstandslage befinde, also daß er eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit nicht anders als durch die Begehung der Tat abwenden könne. Das kann eine gleichwohl rechtswidrige Tat entschuldigen. Auf einen ebensolchen Notstand beruft sich auch die Verteidigung von Demjanjuk. Dem halten die Ankläger entgegen, es gebe keinen einzigen Fall, in dem ein Hilfswilliger wegen Befehlsverweigerung zum Tode verurteilt worden sei.

Im übrigen hätte Demjanjuk einfach abhauen können. Eine Notstandslage habe erkennbar nicht bestanden. Darauf erwidert wiederum die Verteidigung, daß aufgegriffene Deserteure standrechtlich erschossen wurden. Dieses Geflecht von Handlungszwängen und vorhandenen oder nicht vorhandenen Optionen im Jahr 1943 muß das Gericht nach 66 Jahren aufklären und bewerten.

Auf den Vorhalt des Freispruchs für den Vorgesetzten Lachmann und der offensichtlichen Anwendung verschiedener rechtlicher und moralischer Standards antworten die Ankläger mit dem Hinweis, es könne keine Gleichheit im Unrecht geben. Der Fall Demjanjuk biete gerade die wichtige Gelegenheit, die bisherige als zu lax empfundene Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts durch die deutsche Justiz zu korrigieren.

Dem schließen sich auch am Prozeß nicht unmittelbar beteiligte Beobachter an. Siegfried Kauder, Bundestagsabgeordneter der CDU, meint: „Die ganze Welt wird auf diesen Prozeß ein Augenmerk richten und wird genau kontrollieren, wie Deutschland mit solchen Thematiken umgeht.“ Mitglieder der ukrainischen Gemeinde in Cleveland/Ohio, wohin Demjanjuk 1950 emigriert ist und über fünfzig Jahre lang gelebt hat, sehen das ähnlich, nur aus einer anderen Perspektive: Die deutsche Justiz versuche, eigene Versäumnisse in der Aufarbeitung eigenen Unrechts auszubügeln, indem sie an einem ganz und gar unmaßgeblichen Ukrainer ein Exempel statuiere.

Ob der Vorsitzende Richter Ralph Alt diesem Ansinnen Folge leistet, ist noch offen. Am dritten Verhandlungstag setzte er das Verfahren vorläufig aus, weil der Arzt des Haftkrankenhauses Demjanjuk wegen einer Erkrankung für transportunfähig erklärt hatte. Der Prozeß soll am kommenden Montag fortgesetzt werden.

Foto: John Demjanjuk am ersten Verhandlungstag in München: Freispruch in Jerusalem

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