Regierungswechsel waren in der Vergangenheit Wegscheiden. 1969 begann mit Willy Brandt die sogenannte Ära der Entspannungspolitik, 1982 propagierte der CDU-Kanzler Helmut Kohl die „geistig-moralische Wende“. 1998 kam mit Gerhard Schröder der rot-grüne Öko-Staat. Schon 2005, als mit Angela Merkel das Ruder wieder von der CDU übernommen wurde, wollten sich keine Analogien zu vergangenen Regierungswechseln einstellen. Merkels Große Koalition erhöhte zunächst die Steuern und legte sich schließlich wie eine Bleiplatte über das Land.
Und diese Bleiplatte bleibt auf Deutschland liegen. Eine Koalitionsvereinbarung, deren Präambel mit den Worten beginnt: „Wir stellen den Mut zur Zukunft der Verzagtheit entgegen“, blickt rück- und nicht vorwärts. Merkel und die FDP haben keine Visionen im Gepäck wie einst Willy Brandt und versprechen nicht einmal eine moralische Wende wie Helmut Kohl, sondern huldigen auf rund 130 Seiten vor allem dem schnöden Mammon Geld.
Union und FDP erwecken den Eindruck, als könnten sie „Staatsgeld für alle“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) ausschütten. Dabei ist die noch von der alten Regierung geplante Neuverschuldung kaum zu bewältigen. Bis 2013 sollten nach der Planung des bisherigen Finanzministers Peer Steinbrück (SPD) rund 300 Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen werden. Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU) wird damit vermutlich nicht hinkommen, sondern entweder im Bundeshaushalt oder versteckt über sogenannte Sondervermögen noch höhere Beträge aufnehmen müssen.
Aber Politik, die nach dem alten römischen Grundsatz Brot (Hartz IV) und Spiele (Boulevard-Fernsehen und Bundesliga) funktioniert, muß hohe Sozialkosten bezahlen, um die Symbiose zwischen Bevölkerung und Staat zu sichern. Entsprechend wird draufgesattelt. 24 Milliarden fließen ab 2011 in eine Steuerreform, zu der auch eine Erhöhung des Kindergeldes bereits im Januar 2010 um 20 Euro gehört. Statt 164 gibt es dann 184 Euro pro Kind. Vergessen wurde dabei, daß die Geburtenraten, die mit diesen Sozialleistungen erhöht werden sollen, in der Vergangenheit um so stärker fielen, je mehr die Familienleistungen angehoben wurden. Die FDP hat sich längst den Sozialpolitikern der Union und SPD angeschlossen, nach deren Auffassung der Staat um so sozialer ist, je mehr er ausgibt. Ob jedoch eine immer höhere Förderung des Proletariats, das heute verschämt „Prekariat“ genannt wird, mehr bringt als ein kurzzeitiges Wohlgefühl bei den Empfängern, darf bezweifelt werden.
Union und FDP versprechen gleich im ersten Kapitel ihres Vertrages „Wohlstand für alle“. Nach der allgemeinen Tarifentlastung um 24 Milliarden folgt eine ganze Serie von steuerpolitischen Maßnahmen für Unternehmen, die schon lange auf der Wunschliste von Union und FDP standen, im bisherigen Bundestag aber wegen des Widerstandes der SPD nicht durchzusetzen waren. Darunter sind vernünftige Dinge wie Lockerungen bei der Beschränkung des Verlustabzugs und des Abzugs von Zinslasten (Zinsschranke). Wie die Maßnahmen, die zu milliardenschweren Steuerausfällen führen werden, bezahlt werden sollen, ohne die Neuverschuldung noch höher zu treiben, wird verschwiegen. Das gilt auch für vernünftige Regelungen wie die Besserstellung von Geschwistern bei der Erbschaftsteuer und die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Hotelübernachtungen.
„Wir stehen für eine solide Haushalts- und Finanzpolitik“, heißt es auf Seite 11 des Papiers. Selbst den wohlwollenden Leser beschleicht das Gefühl, daß hier Selbstironie im Spiel sein könnte, vor allem, wenn wenig später von „Goldenen Regeln“ für die Haushaltspolitik die Rede ist. Eine diese Regeln besagt, daß die Staatsausgaben nicht stärker steigen dürfen als das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Nach dieser Regel, die auf Wunsch der FDP eingefügt wurde, müßten die Staatsausgaben in diesem Jahr sinken, da die Krise zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts führt.
Wirklich gespart wurde in der Bundesrepublik jedoch nie. Vor 1990 wollten die Sozialdemokraten alles mögliche durch Verzicht auf das Kampfflugzeug „Jäger 90“ (heute Eurofighter) finanzieren. Danach diente der Verteidigungshaushalt als Steinbruch. Jetzt, da die Kassen endgültig leer ist, werden virtuelle Steinbrüche geschaffen, die sich Sondervermögen nennen. Daß gerade die FDP die Errichtung eines Schuldentopfes außerhalb des Haushalts zur Deckung der Finanzlöcher in den Sozialkassen betrieb, war der Sündenfall für die Liberalen, die bisher noch die Grundsätze der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit wie eine Monstranz vor sich hergetragen hatten. Doch Macht korrumpiert, und bei der FDP ging das so weit, daß sie ihren alten Grundsatz, Leistung müsse sich wieder lohnen, über Bord warf, und auch der Erhöhung des Schonvermögens für Hartz-IV-Empfänger zustimmte. Der vergangene Montag, der Tag, an dem FDP-Chef Guido Westerwelle die Koalitionsvereinbarung unterzeichnete, darf getrost als Tag des liberalen Sündenfalls bewertet werden.
Alle anderen Beschlüsse wie das weitere Festhalten an Mindestlöhnen, die Verlängerung von Laufzeiten der Atomkraftwerke oder die wenigen Maßnahmen der Innenpolitik (Festhalten am Islam-Dialog) fallen da nicht weiter ins Gewicht. Eher noch die Wehrdienstdauer, die auf sechs Monate verkürzt werden soll. Hier schimmert Dilettantismus durch den Vertrag. Genausogut hätte man die Wehrpflicht abschaffen können.
Foto: Westerwelle, Merkel und Seehofer (v.l.n.r.) mit dem Koalitionsvertrag: Liberaler Sündenfall?