Für kein anderes Staatsorgan hat die Wiedervereinigung weitergehende Auswirkungen gehabt als für die Bundeswehr. Die alte Bundeswehr, deren Auftrag die Landesverteidigung war, gibt es nicht mehr. Mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai 2003 wurde der Auftrag zur Landesverteidigung durch einen „erweiterten Verteidigungsauftrag“ ersetzt. Was damit tatsächlich gemeint ist, das brachte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) bei der Vorstellung seiner Richtlinien auf die einprägsame Formel, „Die Sicherheit der Bundesrepublik wird am Hindukusch verteidigt“. Sie bezieht sich auf den Bundeswehr- einsatz, der längst zum Synonym für alle Auslandseinsätze der Bundeswehr geworden ist: auf Afghanistan.
Daß mit der Wiedervereinigung auch neue außenpolitische Herausforderungen auf sie zukamen, erfuhr die Bundesregierung schon wenige Monate nach der Wiedervereinigung, als im August 1991 der zweite Golfkrieg begann. Die Verbündeten drangen auf deutsche Unterstützung. Bonn zahlte und schickte einige Staffeln von Alpha-Jets in die Türkei, die Deutschlands Bündnissolidarität einklagte. Bonn mußte akzeptieren, daß es sich künftig der Beteiligung auch an militärischen Interventionen Amerikas und der Nato nicht würde entziehen können. Dem symbolischen Beitrag zum Irakkrieg folgten zunächst unbewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr, die rechtlich unproblematisch waren. Im Irak stellte die Bundeswehr den Vereinten Nationen von 1991 bis 1996 Hubschrauber und Transportflugzeuge zur Verfügung. In Kambodscha unterstützte sie die Vereinten Nationen mit einem Lazarett und 150 Sanitätssoldaten. Der dritte Auslandseinsatz folgte im August 1992 in Somalia. 1.700 Soldaten des Heeres sowie der Marine und Luftwaffe waren an dem gescheiterten Versuch der Vereinten Nationen und der Amerikaner beteiligt, Mord und Totschlag in Somalia zu beenden. Es sollte nicht das einzige Engagement mit deutscher Beteiligung bleiben, dem der Erfolg versagt blieb.
Eine noch offene Streitfrage war damals, ob die Bundeswehr befugt sei, bei Auslandseinsätzen auch Waffen einzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht beantwortete sie am 12. Juli 1994. Sein Urteil bestätigte, daß die Bundesrepublik berechtigt sei, sich mit der Bundeswehr an bewaffneten Einsätzen der Nato und der Vereinten Nationen im Ausland zu beteiligen; vorausgesetzt, der Bundestag stimmt zu.
Seither hat der Bundestag deutsche Soldaten in viele Länder geschickt, um dort für Frieden und Ordnung zu sorgen – mit meist geringem Erfolg – was nicht am Einsatz der Soldaten lag. In Ruanda wie im Sudan sollten sie helfen, dem Völkermord Einhalt zu gebieten, in Indonesien die friedliche Beilegung von Konflikten überwachen und in Äthiopien und Eritrea die Einhaltung eines Waffenstillstands. Ähnliche Aufgaben erwarteten sie im Kongo, im Libanon, in Georgien und in Darfur. Insgesamt zehn Auslandseinsätze hat die Bundeswehr bisher abgeschlossen; weitere neun dauern an. Die Öffentlichkeit hat sich für sie kaum interessiert. Das gilt mit Abstufung selbst für die seit mehr als zehn Jahren laufenden Einsätze im Kosovo, in Bosnien und Kroatien, wo seit 1996 insgesamt 63.500 Soldaten der Bundeswehr im Einsatz waren. Dort ist es gelungen, das Morden zu beenden. Das Ziel einer sich selbst tragenden politischen Stabilität aber hat sich dort bislang ebenso als unerreichbar erwiesen wie andernorts.
Dagegen steht der Einsatz in Afghanistan seit Jahren im Zentrum der Aufmerksamkeit einer Öffentlichkeit, die ihm zunehmend ablehnend gegenüber-steht. Mit nicht einmal 4.000 Mann hat die Bundeswehr im Norden Afghanistans ein Gebiet zu kontrollieren, das halb so groß ist wie die Bundesrepublik. Enormes hat sie dort als Entwicklungshelfer geleistet. Straßen, Brücken, einen Flughafen und Schulen hat sie gebaut – und dies bei wachsender Bedrohung durch die Taliban. Angesichts der Hilfe, die sie leistet, wäre eine abnehmende Bedrohung logisch. Das Gegenteil aber ist der Fall. Die Angriffe der Taliban werden häufiger und stärker. Sie liefern inzwischen regelrechte Gefechte, die die Bundeswehr immer mehr Menschenleben kosten. Diese Entwicklung widerspricht der Erwartung, daß die deutsche Hilfe für die Bevölkerung zu einer fortschreitenden Befriedung und Stabilität führen müsse. Die Hoffnung, das Land stabilisieren zu können, weicht bei allen Nato-Partnern der Erkenntnis, daß dies mit der korrupten Führungsschicht Afghanistans unmöglich ist. Das muß Konsequenzen haben; offen ist nur noch wann. Wichtig aber ist, daß sie gemeinsam gezogen werden, immer nach dem Motto: „Gemeinsam rein, gemeinsam raus.“
Und wie steht es um die Sicherheit Deutschlands, wenn ihre Verteidigung am Hindukusch scheitert? Dieser Satz erhält durch die absehbare Entwicklung neue Bedeutung; aber eine andere als die ursprünglich gemeinte. Denn nun geht es am Hindukusch nicht mehr nur um Afghanistan, Taliban und Al-Qaida, sondern um die Zukunft der Nato und des Westens. Wenn sich das selbstgesteckte Ziel des Westen, „ein stabiles und funktionsfähiges afghanisches Staatswesen“ zu schaffen als unerreichbar erweisen sollte, darf die Nato das Land nicht als gescheiterte Allianz verlassen. Andernfalls würde ihr politischer und militärischer Zusammenhalt gefährdet und das Ende der transatlantischen Interessengemeinschaft drohen, die wir „den Westen“ nennen. Um das zu verhindern, genügt es zu verhindern, daß Afghanistan wieder zum Stützpunkt des internationalen Terrorismus wird.
So erhält der Satz, „die Sicherheit Deutschlands wird am Hindukusch verteidigt“ Sinn. Es ist deutsches Interesse, darauf hinzuwirken, daß der Westen sein Hindukusch-Abenteuer intakt übersteht. Denn soviel ist sicher: Deutschlands Sicherheit braucht „den Westen“ und seine Befähigung, die Interessen seiner Mitglieder verträglich zu gestalten. Ihm diese Fähigkeit zu erhalten, ist das wirkliche Interesse, um das es für Deutschland in Afghanistan geht.
Foto: Deutscher Panzer beim Einmarsch in das Kosovo (1999): Langjährige Diskussionen