Ein brutaler Prügel-Überfall in der Münchner U-Bahn bescherte einem 76 Jahre alten Rentner kurz vor Weihnachten einen Krankenhausaufenthalt und der deutschen Öffentlichkeit eine überraschende Premiere: Ein krasser, aber durchaus nicht außergewöhnlicher Fall von rassistischer Jugendgewalt gegen Deutsche schaffte es in die überregionalen Agenturmeldungen und sogar in die Fernsehnachrichten. Auf dem fruchtbaren Wahlkampf-Boden in Hessen, Niedersachsen, Bayern und Hamburg gedieh daraus eine bundespolitische Debatte über die überproportionale Kriminalitätsbelastung jugendlicher Ausländer, die freilich bald wieder auf die ausgetretenen Pfade der sozialpädagogischen Patentlösungen einschwenkte. Der pensionierte Schuldirektor Bruno N. hatte eine hierzulande riskant gewordene Form von Zivilcourage gewagt: Er hatte einen jungen Türken und dessen griechischen Zechkumpan am Abend des 20. Dezember auf das in der Münchner U-Bahn bestehende Rauchverbot aufmerksam gemacht. Die Zurechtgewiesenen schlugen den alten Mann an einer U-Bahn-Station von hinten nieder, traten unter rassistischen Beschimpfungen auf ihn ein und fügten ihm lebensgefährliche Schädelbrüche zu. Er bringe gerade „einen Deutschen“ um, prahlte einer der Täter über sein Mobiltelefon. Nach der Festnahme erklärten beide, das Opfer sei selbst schuld, weil es sie „angemacht“ habe. Als „Raucher-Gewalt“ ließ sich das nur anfangs abtun. Die Veröffentlichung der Video-Aufzeichnung des Überfalls aus einer U-Bahn-Überwachungskamera in den ZDF-„heute“-Nachrichten gab den Startschuß zu einer Welle weiterer Meldungen, die unter üblichen Umständen in den Lokalspalten beerdigt oder überhaupt ignoriert worden wären, statt von den Agenturen überregional verbreitet zu werden. So erfuhr die Öffentlichkeit kurz darauf von zwei weiteren Gewalttaten in der Münchner U-Bahn, die die Beteuerungen der Stadtwerke, der Nahverkehr der bayerischen Landeshauptstadt gehöre zu den sichersten überhaupt, in fahlem Licht erscheinen ließen. Deutschlandweites Aufsehen erregte auch eine Hetzjagd am Neujahrsmorgen im niedersächsischen Meckelfeld, bei der eine fünfzehnköpfige Jugendgang „südländischer Herkunft“ zwei Hamburger durch die Straßen prügelte (siehe Kasten). In Aachen schlug ein Kurde einen Familienvater ins Koma, und der Berliner Tagesspiegel veröffentlichte einen beklemmenden Katalog von Erfahrungsberichten der alltäglichen Raub-Erfahrung des sogenannten „Abziehens“. Ausgerechnet die Bild-Zeitung widmete der plötzlich entdeckten Ausländerkriminalität eine Kampagne, wie sie sonst nur echten oder vermeintlichen „Nazi-Schlägern“ zuteil wird. Zum Motor dieser medialen Komplettverwertung wurde der hessische Ministerpräsident Roland Koch, der die Boulevard-Zeitung benutzte, um mit der Aussage „Wir haben zu viele junge kriminelle Ausländer“ ein neues Wahlkampf-Kaninchen aus dem Hut zu ziehen (siehe den Artikel auf dieser Seite), und Anfang Januar dortselbst seinen eher allgemeinplatzlastigen „Sechs-Punkte-Plan“ gegen Jugendgewalt vorstellte. Andere Wahlkämpfer stimmten in Kochs Ruf nach härteren Strafen für jugendliche Gewalttäter ein. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann und CSU-Chef Erwin Huber machten mit Blick auf die Kommunalwahlen am 2. März den Anfang. Ministerpräsident Günther Beckstein forderte eine schnellere Ausweisung junger Intensivtäter, bei denen Integration und Erziehung gescheitert seien. Pikanterweise war die Abschiebung des türkischen U-Bahn-Schlägers, wie sein Kumpan ein notorischer Serientäter mit langem Straftatenkatalog, während Becksteins Amtszeit als Innenminister schon einmal unterblieben. In Hamburg schließlich meldete sich Innensenator Udo Nagel (parteilos) mit dem Vorstoß, nicht nur die Staatsbürgerschaft, sondern auch die Herkunft der Täter in der Kriminalstatistik zu erfassen. Der erwartete Widerspruch für die Unions-Wahlkämpfer von linker und liberaler Seite und aus den Reihen von Einwanderungslobby und Integrationsindustrie hob die Diskussion prompt auf die bundespolitische Ebene. Der „Fall Mehmet“ habe ja gezeigt, daß harte Strafen und Abschiebungen nichts brächten, behauptete Grünen-Chefin Claudia Roth. Der zwischenzeitlich zurückgekehrte und als „Mehmet“ bekannt gewordene Serientäter Muhlis A. darf allerdings nie wieder nach Deutschland zurückkehren. Unions-Fraktionschef Volker Kauder sekundierte seinen hessischen und bayerischen Parteifreunden wiederum auf dem Springer-Boulevard mit der Forderung nach „Warnschuß-Arrest“ und „Erziehungslagern“ für jugendliche Gewalttäter. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) wehrte sich gegen jede Verschärfung des Jugendstrafrechts und lieferte sich einen heftigen Schlagabtausch mit Kauder und Koch. Ihre Polemik gegen menschenunwürdige „Boot Camps“ in den Vereinigten Staaten hielt freilich nicht lange, zumal Kauder selbst von Einrichtungen mit „therapeutischem Gesamtkonzept“ gesprochen hatte, mit denen sich schließlich auch Zypries anfreunden konnte. Koch griff Kauders Vorlage auf und besuchte das „Boxcamp“ im nordhessischen Diemelstadt – ein aufwendiges sozialpädagogisches Vorzeigeprojekt, das mit seinem betreuungsintensiven Ansatz wohl kaum zur flächendeckenden Problemlösung geeignet erscheint. Die von der Münchner Gewalttat ausgelöste Diskussion hat sich damit inzwischen auf die sozialpädagogische Ebene verlagert. Der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer (siehe den Artikel auf Seite 6) sekundiert Zypries mit dem Verdikt, härtere Strafen würden keinen Eindruck machen, und fordert mehr staatliche Betreuungsmaßnahmen – Pflicht-Ganztagsschulen inklusive. „Anti-Aggressions-Trainer“ durften in mehreren Gazetten ihre Arbeit preisen. Dagegen betonte der Berliner Oberstaatsanwalt Roman Reusch, jugendliche Intensivtäter „beeindruckt nur eines – die Haft“, während Polizei-Gewerkschaftschef Konrad Freiberg schnellere und härtere Strafen fordert und vor wachsendem Polizei-Frust warnt. Die mit der Abschiebungsdiskussion wenigstens angeschnittene einwanderungspolitische Dimension des Problems ist darüber wieder in den Hintergrund geraten. Die Jugendkriminalität sei kein Ausländer-, sondern ein „Unterschichtproblem“, kommentierte die Zeit. Entstanden ist dieses Problem allerdings durch Unterschichtseinwanderung. Es seien ja nicht die „Kinder türkischer Professoren, griechischer Ärzte und albanischer Juristen“, die auffällig würden, bemerkt die Hamburger Wochenzeitung. Die naheliegende Frage, warum man dann das andere Ende der sozialen Skala einwandern ließ und weiter einwandern läßt und ob eine nachhaltige Lösung des Problems nicht gerade da ansetzen müßte, stellt sie allerdings auch nicht. Foto: Neuerliche Gewalttat in der Münchner U-Bahn am Neujahrstag: Video-Aufnahmen finden den Weg in die Fernsehnachrichten
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