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Es gibt kein europäisches Volk

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Die durch die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden ausgelöste Krise der EU hat nicht nur den Streit um die Finanzen offen ausbrechen lassen. Der vergangene EU-Ratspräsident, der Luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker hat es klar analysiert: es geht um zwei unterschiedliche EU-Konzeptionen – der eines großen Marktes oder der einer politischen Union. Junckers Nachfolger als EU-Ratspräsident, der britische Premier Tony Blair, verlangt eine grundlegende EU-Reform und meint damit nichts anderes als die Übertragung des britischen Modells des „Kapitalismus pur“ auf den gesamten EU-Markt – womit er zugleich Frankreich und Deutschland von der Führungsrolle in der EU verdrängen will. Die Spanier und im Juli die Luxemburger haben die EU-Verfassung zwar per Referendum bestätigt, doch das Ablehnungspotential ist auch in den Ländern hoch, die den EU-Verfassungsvertrag nur durch die Parlamente verabschiedet haben, ganz zu schweigen von jenen Mitgliedstaaten, die die Abstimmung auf unbestimmte Zeit verschoben haben. Die unmittelbaren Kosequenzen liegen auf der Hand, auch wenn die Brüsseler Bürokratie und die EU-Regierungen ihnen mit allen möglichen Tricks zu entweichen suchen: – Der Versuch, durch einen Verfassungsvertrag die Grundlagen für einen europäischen Bundesstaat zu schaffen, der die nationalen Parlamente und Institutionen allmählich ablöst, ist nicht nur gescheitert. Damit ist nun offensichtlich, daß es kein europäisches Volk (Demos) gibt und folglich auch keine europäische Verfassung und keinen wie immer gearteten europäischen Staat geben kann. Wer an dieser Vision dennoch festhält, läuft genauso gegen die Wand, wie jene, die 1989/90 glaubten, man könne die deutsche Wiedervereinigung aufhalten. – Ebenso gescheitert ist damit der Versuch, die Türkei zum EU-Mitgliedstaat zu machen. – Auch die Hoffnung der Ukraine, Mitglied der EU zu werden, ist nun eine Fata Morgana. Daneben gibt es weitere längerfristige Folgen für die EU selbst. Sie konzentrieren sich darauf, das Problem der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU neu zu regeln und dabei davon auszugehen, daß es unveräußerliche nationale Souveränitätsrechte gibt, die auf internationale Organisationen nicht übertragen werden können, ohne das nationale Selbstbestimmungsrecht in Frage zu stellen. Wenn nun manche Politiker die Situation damit zu beruhigen versuchen, daß sie darauf verweisen, da es nun keinen Verfassungsvertrag gäbe, gelte eben der „Vertrag von Nizza“ (im Februar 2003 in Kraft getreten), so greifen sie zu kurz. Denn es sind ja gerade die Bestimmungen dieses Vertrages (Mehrheitsentscheidungen, Erweiterung der EU), die zur Ablehnung der EU-Verfassung führten. Deutlich wurde das schon zuvor mit den sogenannten Beschlüssen von Lissabon. Natürlich hat der „Vertrag von Nizza“ völkerrechtlich seine Wirksamkeit noch nicht verloren. Aber politisch gibt es keinen Ausweg aus der Krise der EU, wenn diese nicht ihren Status, ihre Funktion und ihre Grenzen in einer Weise neu bestimmt, die dem deutlich gewordenen Volkswillen entspricht. Statt 500 Seiten Verfassung ein Statut mit 30 Artikeln Will die EU das nicht oder kann sie das nicht, wird es ihr gehen wie einst dem 1949 auf Initiative der Sowjetunion gegründeten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW/Comecon), der sich 1991 auflöste. Eine solche Neubestimmung der EU könnte darin bestehen, daß die EU sich als europäische völkerrechtliche Organisation wirtschaftlicher Zusammenarbeit definiert. Eine solche EU benötigte keine Verfassung mit 500 Seiten, sondern ein Statut mit vielleicht 30 Artikeln. Eine solche EU benötigte keine Bürokratie mit Tausenden von Mitarbeitern, sondern ein Sekretariat mit maximal 50 Personen. Eine solche EU benötigte keinen teuren Europäischen Gerichtshof, sondern ein Schiedsgericht, das Wirtschaftsstreitigkeiten entscheidet. Vor allem würde eine solche EU von den Völkern der Gemeinschaft akzeptiert. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß entspräche dann dem in jeder internationalen Organisation. Womit die Mitgliedstaaten nur soviel Souveränitätsrechte an die EU übertragen, wie zum Funktionieren dieser Wirtschaftsorganisation unbedingt erforderlich. Nach dem heutigen Stand müßten also manche Rechte an die Mitgliedstaaten zurückübertragen werden. Das wäre natürlich im einzelnen gründlich zu beraten. Doch auch der Euro wäre von solcher Überprüfung betroffen. Denn die bisherige Erfahrung zeigt, daß sich die Mitglieder der Währungsunion mit dem Verzicht auf eine nationale Währung eines wichtigen Instrumentes zur Reaktion auf die neuen Bedingungen der Weltwirtschaft beraubt haben. Zudem gibt zu denken, daß es jenen EU-Staaten, die ihre eigene Währung behalten haben (Dänemark, Großbritannien, Schweden), wirtschaftlich besser geht als den Euro-Staaten. Aber wo bleibt dann die „europäische Idee“? Doch diese Idee besteht eben gerade in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die These „ohne EU kein Friede in Europa“ ist naiver Unsinn. Die EU hat noch nie – gleich in welcher Gestalt, als EWG, EG oder EU – den Frieden in Europa gesichert. Die Friedenssicherung lag noch immer im atomaren Gleichgewicht von Ost und West und liegt auch heute noch bei den USA und Rußland. Und was haben die letztgenannten von einer solchen EU-Entwicklung? Bei den USA ist das einfach: Ihre Betonung, sie wollten ein starkes Europa, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie keinen europäischen Konkurrenten wünschen – aber auch nicht fürchten. Das Rußland von Wladimir Putin scheint die neue Situation noch gar nicht begriffen zu haben. Auf dem GUS-Gipfel im Juni in Tiflis (Tblissi) meinten die russischen Vertreter, man wolle „eine starke EU mit Verfassung“. Da sind wohl wieder einmal die falschen Berater des Präsidenten zum Zuge gekommen. Prof. Dr. Wolfgang Seiffert lehrt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er war jahrelang in der Integrationsgemeinschaft des RGW tätig.

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