Bildungsmisere in Deutschland und kein Ende: Fast die Hälfte aller deutschen Grundschüler erhält nach der vierten Klasse eine falsche Schulempfehlung. Viel zu oft wird nach sozialer Herkunft statt nach Leistung entschieden. Dies geht aus dem Grundschulvergleich der Bundesländer hervor, der vergangene Woche in Berlin vorgestellt wurde. Der Ländervergleich ist eine Erweiterung der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung „Iglu“. An ihm hatten sich sieben Bundesländer beteiligt, die Ergebnisse Thüringens sind jedoch aufgrund der Auswahl der Schulen nicht repräsentativ. Danach erhalten nur etwa zwei Drittel der guten Leser ihren Leistungen entsprechend eine Gymnasialempfehlung, während ein Drittel für die Realschule und etwa vier Prozent für die Hauptschule empfohlen werden. Umgekehrt erhalten zehn Prozent aller schlechten Leser eine Gymnasialempfehlung. Auch von den Grundschülern mit mittlerer Kompetenz wird der Studie zufolge nur die Hälfte ihren Leistungen entsprechend für die weiterführende Realschule empfohlen. Für die vierte Klasse müssen Standards entwickelt werden „Praktisch jede Note“ sei in diesem Bereich möglich, kritisierte der Leiter der Studie, Wilfried Bos. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) bezeichnete dies als „alarmierendsten Befund“ der Studie. „Wir verbauen Kindern damit Chancen auf ihre Zukunft und verschenken Bildungsreserven“, betonte sie. Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nannte die Übergangsempfehlungen am Ende der Grundschulzeit eine „Farce“. Der saarländische FDP-Bundestagsabgeordnete und Bildungsexperte Christoph Hartmann äußerte sich schockiert über die Ergebnisse der Studie: „Nicht hinzunehmen sind die festgestellten Ungerechtigkeiten in der Notenvergabe. So haben gleich begabte Kinder in unterschiedlichen Klassen und in unterschiedlichen Bundesländern völlig ungleiche Chancen. Dies muß sich ändern. Es zeigt sich erneut, wie notwendig nationale Bildungsstandards sind, die auch überprüft werden.“ Hartmann forderte die Kultusministerkonferenz auf, Standards für die vierte Klasse zu entwickeln. Auch von Gewerkschaftsseite hagelte es Proteste wegen der Ergebnisse. Sie spiegelten mehr die soziale Herkunft als die individuellen Fähigkeiten der Schüler wider, erklärte GEW-Chefin Eva-Maria Stange. Der Ländervergleich hatte ergeben, daß beim Lese-Spitzenreiter Baden-Württemberg Kinder aus höheren sozialen Schichten gegenüber Kindern aus Arbeiterfamilien sechsfach höhere Chancen haben, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Oft beeinflußt die soziale Herkunft die Schullaufbahn Auch in anderen Bundesländern beeinflußt die soziale Herkunft die Schullaufbahn. Die Empfehlung werde keinesfalls ausschließlich nach Leistung vergeben, betonte auch Bos. „Der Sohn vom Chefarzt hat gute Chancen, eine Gymnasiumsempfehlung auch bei mittleren Leistungen zu bekommen. Die Tochter einer türkischen Putzfrau hat es schwer, auch wenn sie sehr gut ist.“ Im Ländervergleich zeigte sich zudem, daß die Grundschüler in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen auch im internationalen Vergleich beim Lesen mithalten können. Nur in Schweden, den Niederlanden und England sind die Leseleistungen besser. Die Lesekompetenz der Grundschüler in NRW entspricht dem deutschen Durchschnittswert, während sie in Brandenburg und Bremen drastisch niedriger ist. In Bremen kann jeder fünfte Grundschüler Texte kaum erfassen, während im deutschen Durchschnitt jeder zehnte Grundschüler sehr schlecht liest. Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) forderte umgehend Konsequenzen für das gesamte Schulsystem in Deutschland. „Wer ein gegliedertes Schulsystem hat, muß für ein hohes Maß an Durchlässigkeit sorgen. Die Reformgeschichte, die wir schreiben, muß an internationalen Maßstäben ausgerichtet sein.“ Die Studie belege allerdings, daß die Grundschule unter den Schularten in Deutschland einen guten Stand habe. Die internationale Iglu-Studie, auf der der deutsche Ländervergleich aufbaut, war im April vergangenen Jahres vorgestellt worden. Hier belegten die deutschen Grundschüler den elften von 35 Plätzen. Die alarmierenden Ergebnisse waren allerdings bisher kein Anlaß, um ein geschlossenes Vorgehen zu entwickeln. Ausgesprochen parteipolitisch fixiert, erklärte die für Bildung und Forschung zuständige Vize-Chefin der Unions-Bundestagsfraktion Maria Böhmer: „Wieder einmal haben es die CDU/CSU-regierten Länder gezeigt: Beim Thema Bildung haben sie auch in der Grundschule die Nase vorn.“ Oft mißachten gerade Akademiker die Empfehlung Völlig außer acht gelassen wurde bei der Analyse bislang der sogenannte Migrationshintergrund. Wie viele Einwandererkinder unter den „Problemfällen“ seien, wollte keiner der Experten verraten. Aus Bayern meldeten sich mittlerweile erste Zweifler. Eugen Preiß vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband erklärte: „Viele Akademiker können es einfach nicht hinnehmen, daß ihr Kind eine Hauptschule besuchen soll. Sie setzen sich über die Empfehlung hinweg. Bei sozial Schwächeren ist das seltener der Fall. Das hat aber nichts mit einer ungerechten Behandlung durch die Lehranstalten zu tun.“ Wie viele Experten erteilt auch der Bayer einer universellen Abschlußprüfung für Grundschüler eine Absage. „Wenn schon ein Test, dann sollte der Probeunterricht am Gymnasium Aufschluß über die Befähigung der Schüler geben.“ Dort zeigten sich auch andere wichtige Faktoren wie Einsatzbereitschaft, Fleiß oder Engagement. „Und die sind oft aussagekräftiger als Noten.“