Bis 1941 lebten knapp 1,2 Millionen Menschen auf der Krim – 51.000 davon waren Deutsche. Nach dem Kriegsausbruch 1941 wurden sie wie die anderen Rußlanddeutschen nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Unzählige starben schon auf dem Transport. Am 18. Mai 1944 – eine Woche nach dem Abzug der deutschen Truppen von der Krim – traf dieses Schicksal die Krimtataren. „Generalissimus“ Josef Stalin bezichtigte sie der Kollaboration, und so wurden sie – gemeinsam mit je 20.000 Griechen und Armeniern sowie 17.000 Bulgaren – in einer Blitzaktion in die Sowjetrepublik Usbekistan deportiert. Refat Tschigos erlebte diese Vertreibung als Zehnjähriger. An jenen Tag vor 60 Jahren kann er sich gut erinnern: „Vier Milizionäre standen morgens vor unserer Tür. Wir hätten 15 Minuten Zeit, um zu packen, sagten sie. Mein kleiner Bruder verstand nicht, was los war. Als sie uns forttrieben, wollte er wieder ins Haus rennen – da hätten sie ihn fast erschossen. Wir haben vorher auch die Deutschen erlebt. Aber diese Rotarmisten waren noch grausamer.“ Dann kam die Fahrt, acht Wochen in einem abgeriegelten Güterwaggon ohne Toilette. Frauen, Kinder, Greise – auf engstem Raum eingepfercht. Nur selten gab es zu essen und zu trinken, viele starben. Ab und zu öffneten die Bewacher die Türen und warfen die Toten ins Freie. Ob in Flüsse, in den Wald oder in die weite Steppe, das war ihnen egal. Endstation war ein kleines Dorf in Usbekistan, „am Ende der Welt, so kam es uns vor“, sagt Tschigos. Dort mußten alle, auch die Kinder, im Bergwerk arbeiten. Noch heute hat Tschigos Alpträume: „Das war keine Jugend. Das war unterunterbrochene Schwerstarbeit – für einen lächerlichen Lohn. Ich weiß nicht, wie es unsere Mutter geschafft hat, immer wieder ein bißchen Essen zu besorgen. Aber eines steht fest: Wenn sie sich nicht aufgeopfert hätte, wären wir verhungert.“ An ihrem neuen Wohnort wurden die Krimtataren wie Aussätzige behandelt. Die Sowjet-Propaganda machte sie zu Vaterlandsverrätern, Kollaborateuren der deutschen Besatzer. Für die Kinder blieb der Sinn dieser Vorwürfe lange im dunkeln. Sich dem wachsamen Auge des KGB zu entziehen, war nicht möglich. Wenn sie sich heimlich versammelten, um Beschwerdebriefe an den Kreml zu schreiben, wurden sie ausspioniert, festgenommen, verhört und nicht selten ins Gefängnis gesteckt. Einmal jedoch erhielt Tschigos ein Angebot: Er solle mit dem KGB zusammenarbeiten und über die Aktivitäten seiner Landsleute berichten. Dafür würde man ihn belohnen: mit einer guten Stelle an einem guten Ort. Für Tschigos kam das nicht in Frage. „Wer sein Volk verkauft, der verkauft auch seine Heimat!“ – davon war er fest überzeugt. Im Gegensatz zu anderen deportierten Völkern der UdSSR wurden die Krimtataren erst spät rehabilitiert. Der aus der Ukraine stammende KP-Generalsekretär Nikita Chruschtschow erwähnte sie 1956 in seiner berühmten Geheimrede – in der er nicht nur mit dem Stalinismus abrechnete, sondern auch Tschetschenen, Inguschen und anderen die Rückkehr in ihre alte Heimat erlaubte – nicht. Erst nach Chruschtschows Ablösung sprach die Sowjetführung die Krimtataren 1967 vom Vorwurf der Kollaboration frei. Doch die Krimtataren erhielten keine Aufenthaltsgenehmigung: So zogen etwa 20.000 zunächst in die krimnahen Bezirke Cherson (Südukraine) und 45.000 nach Krasnodar (Nordkaukasus). 1985 wurde Michael Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU – und 1989 fiel nicht nur die Berliner Mauer, sondern es geschah auch das, was Tschigos beinahe nicht mehr zu hoffen wagte: Er kehrte in seine Heimat auf die Krim zurück. Tschigos war plötzlich ein freier Mann. Auf der Halbinsel jedoch fanden sich die Rückkehrer als Minderheit (etwa zwölf Prozent) wieder. Rückkehr des vertriebenen Volkes in seine Heimat Vor allem Russen waren in der Zwischenzeit – auf Geheiß der Sowjetbehörden – hierher gezogen und hatten Haus und Hof übernommen. Fast zwei Drittel der 2,5 Millionen Einwohner waren nun Russen. Seit zwei Generationen lebten sie nun hier – und empfingen die Rückkehrer nicht selten feindselig. „Wenn sich ein Krimtatar auf eine Stelle bewirbt, hat er praktisch keine Chance“, sagt Tschigos, „dabei wollte ich doch, daß meine Kinder einmal ein besseres Leben haben.“ Etwa eine halbe Million Krimtataren lebt verstreut auf mehrere Sowjetrepubliken. Noch etwa 150.000 Krimtataren leben in Usbekistan, sie wurden 1992 ungefragt zu usbekischen Staatsbürgern. Nicht nur deshalb ist die Rückkehr des vertriebenen Volkes in seine Heimat mit zahlreichen Problemen verbunden. 1954 wurde die Krim offiziell der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik angegliedert, 1992 Teilrepublik der unabhängigen Ukraine – mit einem Regionalparlament, in dem die Krimtataren vertreten sind. Daneben haben sie ihr eigenes Parlament, den Kurultai. Er wurde 1991 erstmals seit 1918 wieder gewählt, was zu Spannungen mit dem offiziellen Krim-Parlament führte. Das Präsidium des Kurultai ist der Medschlis. Das 33köpfige Gremium führt die Geschäfte zwischen den Versammlungen des Kurultais. Zwar ist die Ukraine das einzige GUS-Land, das seinen unter Stalin vertriebenen Völkern die Rückkehr ermöglicht. Diese Aktion wurde jedoch spontan entschieden und ohne entsprechende Vorbereitungen durchgeführt. Als der Strom der krimtatarischen Rücksiedler 1989 einsetzte, war ihnen gegenüber in der überwiegend russischen Bevölkerung der Halbinsel eine starke Feindseligkeit verbreitet. Das Krimtataren-Problem durfte in der Sowjetunion nicht thematisiert werden, erzählt die Historikerin und Abgeordnete des Regionalparlaments der Krim Galina Grschibowskaja. Dies bedeute jedoch nicht, daß es keinen Verrat gegeben habe: „Das gehört zur Geschichte. Jene Menschen, die den Krieg erlebt haben und die heute noch am Leben sind, etwa die Kriegsveteranen, können es nicht so schnell vergessen. Ich habe Informationen aus den Archiven, als auf der Krim im Jahre 1941 eine eigene 51. Armee gebildet wurde, die die Krim vor den Deutschen verteidigen sollte. In diese Armee wurden 20.000 Krimtataren eingezogen, und beinahe all diese Menschen begingen Fahnenflucht. Wo sie danach landeten, bedarf keiner Erläuterung“. Bis heute scheint die Abneigung vieler Slawen gegen die Krimtataren nicht überwunden – und alte Konflikte aus der Vor-Sowjetzeit keimen auf. Viele Krimtataren, deren Sprache mit dem Türkischen verwandt ist, bekennen sich wieder offen zum Islam. Seit 1478 gehörte die Krim zum Osmanischen Reich – erst 1783 kam sie zum Zarenreich. Die danach einsetzende slawische (und deutsche) Besiedlung führte zur Auswanderung vieler Tataren: Etwa über eine Million lebt in den EU-Kandidatenländern Rumänien und Bulgarien. Etwa fünf Millionen leben in der Türkei, zwar größtenteils assimiliert – doch die krimtatarische Diaspora unterstützt ihre Landsleute, etwa im Schulwesen und bei kulturellen und religiösen Einrichtungen. Deshalb haben bislang Islamisten keinen Einfluß auf die Tataren nehmen können. Doch die Ukraine ist zu arm, um die Neuankömmlinge ausreichend zu unterstützen. 2003 gab es für die Reintegration der 250.000 Krimtataren nur acht Millionen Euro. Das ukrainische Parlament in Kiew hat es noch immer nicht geschafft, ein Gesetz über die Rehabilitierung des krimtatarischen Volkes zu verabschieden. Das ehemalige Vermögen der Vertriebenen, Grundstücke und Häuser, gehört heute Russen und Ukrainern. Die Frage einer Wiedergutmachung wird daher in der Ukraine nicht einmal diskutiert. Das Gefühl, ausgestoßen zu sein, verbreitet sich unter den Krimtataren immer schneller. Als die Krimtataren Ende der achtziger Jahre zurückkehrten, durften sie sich zum einen nur im Landesinneren – einem kargen Steppenland – ansiedeln. Zum anderen wurden sie an ihren neuen Wohnorten an der Privatisierung des Kolchos- und des Sowchoseigentums nicht beteiligt. Der Unmut ergoß sich in breite Protestaktionen. Wie die Indianer Nordamerikas besetzen die Krimtataren seit dem vorigen Sommer Land. Es handelt sich überwiegend um die teuersten Filetstücke des ukrainischen Territoriums – die Südküste des Schwarzen Meeres. Vor der Vertreibung lebten hier 80 Prozent der Krimtataren. Hierher wollen sie zurückkehren. Offiziell wird der Verkauf von Land in der Ukraine erst im nächsten Jahr beginnen. Tatsächlich verkaufen die örtlichen Behörden schon heute vor allem die wertvollsten Grundstücke illegal. Es heißt, besonders neureiche Russen möchten sich ein Feriendomizil am Meer bauen. Ihre Landbesetzung verstehen die Krimtataren deshalb als Notwehr. Die Hüttendörfer, die sie ohne Genehmigung errichtet haben, ziehen sich schon über die gesamte Südküste der Halbinsel. Refat Tschubarow, krimtatarischer Abgeordneter im ukrainischen Parlament, ist überzeugt: Die zwischen der tatarischen Minderheit und dem ukrainischen Staat existierenden Probleme ließen sich auch ohne Landnahmen lösen. Aber dafür müßte die Exekutive sich zunächst einmal wenigstens an die Gesetze ihres Landes halten. Foto: Protestierende Krimtartaren mit ihrer Fahne auf besetztem Land: „Wer sein Volk verkauft, der verkauft auch seine Heimat!“