Vor rund zwei Monaten schien die Welt für Jean-Marie Le Pen noch in Ordnung. Aus den Re-gionalwahlen war sein Front National (FN) landesweit mit knapp 15 Prozent der Stimmen als drittstärkste Kraft hevorgegangen. „Nun gilt unser Augenmerk der Europawahl. Dort wollen wir unser Ergebnis wieder verdoppeln“, meinte der 75jährige FN-Chef damals siegessicher. Beim EU-Urnengang 1999 stimmten nur 5,7 Prozent für den FN, denn vorausgegangen war die bis dato schwerste Parteikrise: Erbittert hatte sich „Kronprinz“ Bruno Mégret dagegen gewehrt, daß die Ehefrau des Parteigründers die EU-Liste anführen sollte. Megrét zog den kürzeren, verließ die Partei mit mehreren tausend Anhängern und gründete die erfolglose Republikanische Nationalbewegung (MNR, JF 36/99). Was Le Pen als „kleinen, einmaligen Aufstand von Putschisten und Zukurzgekommenen“ bezeichnete, könnte sich wiederholen. Im Mai begann der jüngste Streit, als Parteichef Le Pen die langjährige Funktionärin Marie-France Stirbois – die Witwe eines 1988 tödlich verunglückten Generalsekretärs des FN – in Südostfrankreich vom Listenplatz Nummer zwei zu den EU-Wahlen warf, um ihn an eine Freundin seiner Tochter Marine zu vergeben. Stirbois protestierte öffentlich und unterstellte Le Pen, dem „schädlichen Einfluß einer kleiner Kamarilla ausgesetzt zu sein“. Altgediente Parteifunktionäre erkannten die Zeichen der Zeit. Angeführt von Stirbois wagte sich auch FN-Vize Bruno Gollnisch aus der Deckung. Der Intellektuelle, nach dem Megrét-Putsch vor Jahren von Le Pen als Nachfolger auserkoren, leidet schon seit geraumer Zeit unter Liebesentzug. Spätestens seit dem Parteitag 2003, als Marine Le Pen von den Delegierten nur auf Platz 34 in den FN-Vorstand gewählt wurde, aber anschließend per väterlicher Order Gollnisch gleichgestellt wurde, gärt es innerhalb des FN. Kürzlich ging ein weiteres Zugpferd auf Konfrontationskurs. Jacques Bompard, FN-Bürgermeister der südfranzösischen Stadt Orange, rief die innerparteilichen Opponenten zu einer Veranstaltung zusammen. Sie kamen in Scharen – allen voran Marie-France Stirbois und der FN-Funktionär Bernard Antony. Gollnisch blieb der Versammlung fern, denn im Vorfeld hatte Le Pen mit Ordnungsmaßnahmen gedroht. Angesichts der Teilnahme von Stirbois und Antony zeigte sich „der Alte“ gemäßigter und berief sich auf den früheren Premier Georges Clemenceau (1841-1929). Der Radikalsozialist soll gesagt haben, ein Politiker müsse jeden Morgen zum Frühstück einen Napf lebendiger Kröten hinunterwürgen. Gleichwohl machte Le Pen deutlich, daß er den Platz an der Parteispitze keinesfalls kampflos räumen wird. „Ich habe noch Zähne und einen dicken Lederpanzer. Und bei den Krokodilen ist oftmals der Schwanz am gefährlichsten“, drohte der alternde Chef seinen Kritikern und sprach von „dümmlichen Bestrebungen, die uns am Europawahlkampf hindern“. Doch nur die anstehende Wahl, bei der neben Le Pen mit Gollnisch und dem Generaldelegierten Carl Lang zwei Kandidaten mit eigenen Ambitionen auf aussichtsreichen Plätzen kandidieren, verhindert derzeit wohl den großen Bruch. Mit Genugtuung haben die Gegner des Familienclans registriert, daß Marine Le Pen bei den Regionalwahlen im Großraum Paris unter zwölf Prozent blieb – hinter den Resultaten von Gollnisch und Lang. In der öffentlichen Wahrnehmung hat Marine Le Pen ihren innerparteilichen Konkurrenten allerdings den Rang abgelaufen. Anders als die „altrechten“ Technokraten um Gollnisch oder Lang gilt die 36jährige als charmant, zugänglich und gemäßigt (JF 14/04). Sie war die große Entdeckung der Fernsehdebatten kurz nach dem Triumph von Jean-Marie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2002. 1992 begann Marine Le Pen eine Karriere als Anwältin. Als Pflichtverteidigerin vertrat sie sogar einmal einen „illegalen Einwanderer“ – was seitdem immer wieder mal genüßlich von der politischen Konkurrenz ausgeschlachtet wird. 1998 übernahm sie dann die Rechtsabteilung des FN. Selbsternannte Le Pen-Nachfolger im Abseits Bei der Parteispaltung im Dezember 1998 spielte sie eine führende Rolle bei der „Säuberung“ von Anhängern des „Deserteurs und Verräters“ (Jean-Marie Le Pen) Mégret. Genau der dürfte sich freuen über die neuerlichen Querelen im FN. Einige seiner verbliebenen Anhänger nahmen an der Bompard-Veranstaltung in Orange teil. Bei den EU-Wahlen kommt es dennoch zu einer Konkurrenzkandidatur. Der personell ausgedünnte MNR, bei dem Megrét mittlerweile der einzige prominente ehemalige FN-Politiker ist, hofft von den neuerlichen Nachfolgedebatten um Le Pen zu profitieren. Der zeigt sich öffentlich amüsiert. „Viele meiner potentiellen Nachfolger sind schon längst gestorben, die anderen sind zumindest politisch tot.“ Die Erfahrungen der letzten Parteispaltung hindern deswegen auch Gollnisch und Stirbois daran, den Streit auf die Spitze zu treiben. Zwar gilt der Front National spätestens seit den zurückliegenden Regionalwahlen als im Parteiensystem fest verankert, doch haben französische Meinungsforscher herausgefunden, daß vor allem der Name Le Pen nach wie vor als Zugpferd taugt. „Générations Le Pen“ heißt denn auch die 1998 – damals noch im Singular – gegründete Vorfeld-Organisation, deren Vorsitz die Tochter des Parteiführers im Juli 2002 übernommen hat. Marie-France Stirbois und Bruno Gollnisch gehören nicht dazu. Foto: Wahlplakat Le Pen: Kampf ums EU-Parlament