Das furchtbare Ende des Geiseldramas in der südrussischen Republik Nordossetien-Alanien kennzeichnet in grausamer Weise eine neue Dimension des Terrors. Erst stürzten am 24. August zwei russische Flugzeuge auf einem Inlandsflug fast gleichzeitig vom Himmel und forderten 89 Todesopfer. Eine Woche später explodierte vor einer Moskauer U-Bahnstation eine Bombe und riß zehn Passanten in den Tod, über 50 wurden verletzt – wieder das Werk von Terroristen. Zum rußlandweiten Schulbeginn am 1. September überfielen nun 30 Terroristen eine Schule im nordossetischen Beslan, nahmen mehrere hundert Menschen als Geiseln. Fast 400 Frauen, Kinder und Säuglinge kamen dabei um – die grausamen Bilder gingen um die ganze Welt. Doch diese bislang unerreichte Dimension des Terrorismus war eine koordinierte Aktion, deren Ende noch nicht abzusehen ist. „Die Terroristen haben Rußland den Krieg erklärt“, sagte der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanov im Fernsehen, und er dürfte damit leider nur allzu recht haben, bekannte sich doch die islamische Terrorgruppe „Islambuli-Brigade der al-Qaida“ zu den Anschläge. Will man bei der Analyse des mörderischen Geschehens nicht leichtfertig dazu beitragen, solch verbrecherische Aktivitäten zu rechtfertigen, muß man zwei Prinzipien akzeptieren: – Nichts , aber auch gar nichts, kann die gewollte Ermordung von Kindern rechtfertigen. – Kein Staat der Welt kann sich terroristischer Gewalt beugen, will er sich nicht selbst aufgeben. Schon der Bericht des Spiegels über den Absturz der zwei russischen Tupolew erwähnte bedeutungsschwer, daß beide von Moskau in den Süden Rußlands (Sotschi bzw. Wolgograd) flogen und daß Präsident Wladimir Putin zeitgleich an seinem Urlaubsort Sotschi den französischen Präsidenten Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder zu einem Dreier-Gipfel erwartete. Gleichzeitig zitierte der Spiegel den russischen Generaloberst Jurij Solojow, der darüber informierte, man habe jetzt ein System installiert, mit dem entführte Flugzeuge innerhalb einer Minute erfaßt und abgeschossen werden könnten. Sollte damit angedeutet werden, die Maschinen seien zum Schutz des Dreier-Gipfels abgeschossen worden? Welchen Realitätswert immer man solchen Berichten zumessen will, fest steht, daß die Terroranschläge politisch gegen den russischen Präsidenten gerichtet waren. Sie sollten jedermann zeigen, daß Putin nicht für Sicherheit im Lande sorgen könne. Der Anschlag in Beslan ging ganz offensichtlich von der Annahme aus, Putin werde mit entschlossener Gewalt gegen die Terroristen vorgehen und die dabei unvermeidlichen Opfer würden dem russischen Präsidenten angelastet werden. Nach den tragischen Ereignissen steht nun allerdings fest: Die alleinige Verantwortung für die vielen Opfer liegt bei den Terroristen. Denn Putin setzte von Anfang an auf Verhandlungen mit den Terroristen, um das Leben der Geiseln zu retten – am 2. September kamen 26 Frauen und Kinder frei. Putin entsandte seinen Berater zu weiteren Verhandlungen nach Beslan und war offensichtlich auch damit einverstanden, daß der im Untergrund lebende Ex-Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow, als Vermittler gegenüber den Terroristen auftritt. Die Terroristen sollen angeblich gerade über die Einschaltung Maschadows in Streit geraten sein. Bei seinem Besuch in Beslan erklärte Putin erneut, was zuvor schon Vertreter des Inlandgeheimdienstes vor Ort gesagt hatten: Eine gewaltsame Erstürmung der Schule war nicht geplant. Auch anfangs zweifelnde journalistische Beobachter räumen dies nun ein. Falsche und wahre Hintergründe des Terrors Nicht wenige bringen die Terroranschläge mit dem Tschetschenien-Konflikt in Verbindung. Politiker, die gern als besonders klug erscheinen möchten, sprechen davon, daß man den Terrorismus nicht besiegen könne, ohne seine Ursachen zu beseitigen. Doch die Zeit für solche intellektuellen Klischees ist vorbei. Denn was haben die Terroranschläge noch mit der Forderung tschetschenischer Gruppen nach Unabhängigkeit von Rußland gemein? Überhaupt nichts. Schon solche Fragen erweisen sich bei näherer Betrachtung – gewollt oder nicht – als Rechtfertigungshilfe für die Terroristen. Selbst Maschadow vertagte als damaliger Präsident Tschetscheniens 1997 in dem „Vertrag über Frieden und die Prinzipien über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Tschetschenischen Republik“ die Frage über den Status Tschetscheniens auf das Jahr 2001. Doch schon 1999 konnte er die Überflutung der gerade mal 15.700 Quadratkilometer großen Republik mit islamistischen Fundamentalisten, international gesuchten Terroristen und Kriminellen nicht verhindern. Auch den Vorstoß solcher Kräfte in die benachbarte Vielvölkerrepublik Dagestan, wo sie einen muslimischen „Gottesstaat“ errichten wollten, hat Maschadow nicht verhindert. Bei den Terroristen von heute handelt es sich aber um eine internationale Verbrecherbande, von der sich auch Maschadow zu distanzieren sucht. Sie wollen die gesamte Region im Kaukasus in einen Unruheherd verwandeln, der nie wieder zu Ruhe und Stabilität zurückkehren soll. Angesicht dieser tatsächlichen Situation davon zu reden, die terroristischen Anschläge seien die Folge einer „verfehlten Tschetschenien-Politik Putins“, ist grotesk. Denn worin bestand diese Politik Putins? Sie bestand darin, Tschetschenien eine neue Verfassung zu geben und Wahlen auszuschreiben, an denen über 70 Prozent der Bevölkerung teilnahmen, terroristische Anschläge aber zu bekämpfen. Wie „frei und fair“ immer diese Wahlen gewesen sind, die Teilnahme der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung zeugt davon, daß diese in Ruhe und Frieden leben will, auch wenn dies nur innerhalb der Russischen Föderation als möglich erscheint. Was aber wäre die Alternative zur kritisierten Tschetschenien-Politik Putins? In einer Tschetschenien-Republik außerhalb Rußland hätten jene Kräfte freie Hand, die aus Tschetschenien einen Hort der Kriminalität und des extremen islamischen Fundamentalismus, ein Zentrum des internationalen Terrorismus machen wollen. Nur die Wahl zwischen Kapitulation und Kampf Zweifellos sehen diese Kräfte in der Vielvölkerregion des Kaukasus ein für ihre Absichten besonders geeignetes Gebiet, um die hier lebenden Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Nur ein Beispiel: Im lediglich 8.000 großen Quadratkilometer Nordossetien-Alanien leben etwa 700.000 Menschen, die überwiegend christlich-orthodox sind. Südossetien hingegen ist weitgehend muslimisch. Und formell gehört das Gebiet zu Georgien, aber faktisch ist es unabhängig. Deshalb hat der Präsident Georgiens, Michail Saakaschwili, erst kürzlich wieder demonstrativ versucht, dieses Gebiet der georgischen Zentralgewalt zu unterwerfen. Traditionell sind Kinder bei den Völkern des Kaukasus unantastbar – und wer Kinder angreift, hat mit archaischer Blutrache zu rechnen. Vielleicht war auch dies ein Grund für die Terroristen, ihren Anschlag auf so viele Kinder zu richten, in der Hoffnung, die christlichen Osseten würden zu einem Rachefeldzug greifen. Die terroristischen Anschläge sind mit dem blutigen Ende des Geiseldramas in Beslan in Rußland nicht zu Ende. Um so notwendiger ist es, daß Rußland – aber auch die internationale Gemeinschaft – die richtigen Konsequenzen zieht. Der russische Präsident hat erklärt, er habe nur die Wahl zwischen Kapitulation und Kampf. Und seine Entscheidung für den Kampf sei klar, um nicht noch mehr Menschen in einen blutigen Konflikt ohne Ende zu ziehen. Glücklicherweise beschränkte er sich nicht darauf, sondern betonte auch, daß die russischen Sicherheitsbehörden von Korruption durchsetzt seien. Das läßt hoffen, daß gegen solche Erscheinungen entschiedener vorgegangen wird, denn solche Schwächen sind es, die den Terroristen helfen. Aber auch die internationale Gemeinschaft wird ihre Folgerungen ziehen müssen. Vor allem die Klischees über Tschetschenien müssen einer realistischen Einschätzung weichen. Die deutschen Medien und vor allem ihre Korrespondenten in Rußland zeigten sich der Herausforderung der terroristischen Anschläge zumeist nicht gewachsen. Manche machten einfach den Eindruck der Hilflosigkeit oder des Verharrens in einem Rußlandbild, das mit den Realitäten wenig gemein hat. Manche fingen auch am Ort des Geschehens – in Beslan – an, sich zu korrigieren. So behauptete ein Berichterstatter erst vollmundig, bei dem Angriff der Sicherheitskräfte auf die Terroristen habe es sich um einen „geplanten, koordinierten Angriff“ gehandelt. Dann aber räumte er ein, daß es eine spontane Reaktion auf die Schüsse der Terroristen auf die fliehenden Kinder war. Manche Politiker, etwa der Kanzler und sein Außenminister Joseph Fischer, beginnen offenbar zu begreifen, daß der Terrorismus innerhalb und auch außerhalb der Russischen Föderation auch für Deutschland eine Gefahr ist. Zumindest scheinen sie zu ahnen, was ein instabiles Rußland für den Rest Europas bedeuten würde. Bleibt zu hoffen, daß andere, etwa CDU-Chefin Angela Merkel, das auch noch nachholen. Wieder andere greifen auch jetzt noch immer wieder den russischen Präsidenten an, ohne sich darüber Gedanken zu machen, daß es gegenwärtig in Rußland keinen anderen Politiker gibt, der in der Lage wäre, in Rußland für Ruhe, Ordnung und Stabilität zu sorgen. Welcher russische Politiker könnte es wohl wagen, beispielsweise so offen gegen die Korruption im eigenen Land vorzugehen? Vor allem aber gilt es zu verstehen, daß jetzt Solidarität und Zusammenarbeit mit Rußland das Gebot der Stunde für die internationale Gemeinschaft ist. Anfänge wie die Verurteilung der terroristischen Anschläge durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, durch die EU und Politiker wie Schröder, Fischer und US-Präsident George W. Bush lassen hoffen. Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht in Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er verfaßte das Buch „Wladimir W. Putin – Wiedergeburt einer Weltmacht?“ Foto: Russische Soldaten bringen Kinder in Beslan in Sicherheit: Auch mit Blutrache ist nun zu rechnen