Max Jakobsen, finnischer Spitzendiplomat aus den Jahren des Kalten Krieges sagte kurz nach dem Sturz des Kommunismus über das Schicksal der Nato: Er kenne in der ganzen Geschichte kein einziges Militärbündnis, das seinen Daseinszweck überlebt hätte. Anders gesagt: der Nordatlantik-Pakt war zwecks Abwehr des Sowjetsystems geschlossen worden. Nun, da es diese Bedrohung nicht mehr gab, hätte auch die Nato zur Disposition stehen müssen. 1999 traten bereits Polen, die Tschechei und Ungarn bei. Am 2. April wird man meinen können, Jakobsen habe endgültig unrecht behalten – denn an diesem Tag werden die Flaggen von Estland, Lettland und Litauen sowie der Slowakei, von Slowenien, Rumänien und Bulgarien im Beisein ihrer Außenminister am Nato-Hauptquartier in Brüssel gehißt. Es ist eine bunte Gesellschaft, die als Vollmitglieder der Nato beitreten: Allenfalls Estland und Lettland genügen den Standards der „transatlantischen Wertegemeinschaft“. Schon bei Litauen mußte so manches Auge zugedrückt werden, erst recht bei Bulgarien und Rumänien. Wer allein an die prekäre Lage der „Straßenkinder“ in Bukarest denkt, wird alle Illusionen über die „Stabilität“ oder gar „Demokratie“ in diesem Raum verlieren. Die beiden südosteuropäischen Staaten drängen in erster Linie in die Nato, weil sie Angst haben: davor, daß der „Große Bruder“ – die russische Armee, die unter Präsident Wladimir Putin wieder zur Melodie der Stalinhymne aufmarschiert – eines Tages wiederkehren könnte. Das nach 1945 erfolgte Verschwinden dieser Staaten hinter dem Eisernen Vorhang wird bis heute von den Führungsgarnituren dieser Länder (auch von vielen Postkommunisten) als schwerer Schock erlebt. Auf einer der zahllosen Strategietagungen, mit denen Westeuropa neuerdings überflutet wird, machte ein Militärexperte auf eine grundlegende Tatsache aufmerksam: Seit die Regierung Schröder in Berlin die Kampfkraft der Bundeswehr zerstört habe, herrsche im strategischen Raum zwischen Berlin und Kiew ein Vakuum. Im Ernstfall gibt es hier keine lokale Streitmacht, die etwa einem massierten russischen Angriff etwas entgegensetzen könnte. Auch die Tatsache, daß die USA einen Großteil ihrer Stützpunkte aus Deutschland auf den Balkan verlegen wollen, bietet bestenfalls eine Teillösung des Problems. Über die „Kampfkraft“ einer rumänischen oder bulgarischen Armee im Ernstfall braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Die Nato-Mitgliedschaft soll also vor allem alte Ängste reduzieren und darüber hinaus auch die Zugehörigkeit zum Westen garantieren helfen (der EU-Beitritt steht frühestens 2007 an) – obwohl man weder sozial noch ökonomisch auf diesen Westen vorbereitet ist. Für die USA wiederum – als Herren der Nato – gibt es ganz andere Prioritäten: Sie benötigen rumänische und bulgarische Stützpunkte in erster Linie, um die Erdöl-Arterien zwischen Zentralasien, dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer zu kontrollieren. Führungsmacht und „Vasallenstaaten“ werden also im gleichen Pakt sitzen, aber ihre jeweiligen Motive sind grundverschieden. Das bietet Stoff für mannigfache Enttäuschungen beiderseits. Es ist klar, daß die Amerikaner hier am längeren Hebel sitzen. Ob die Erfahrungen, welche die Polen bislang mit ihren amerikanischen „Schutzherren“ machen, von den Balkan-Ländern realisiert werden, steht auf einem anderen Blatt. Auf den ersten Blick ganz anders stehen die drei baltischen Staaten da. Man sollte nicht vergessen, daß hier zum erstenmal ein Stück ehemaligen sowjetischen Territoriums die Fronten wechselt. Die Russen – auch Putin und seine Geheimdienst-Freunde – können es nur schwer verwinden, daß erstmals ein Stück des „historischen Rußland“, das im Gefolge der Nordischen Kriege (Schwedenkönig Karl XII.) „heimgeholt“ wurde, nach dem Ersten Weltkrieg verloren ging und ab 1945 wieder unter Moskauer Annexion geriet, nun von der Nato vereinnahmt wird. Schon hört man einstweilen diffuse Moskauer Beschuldigungen, wonach Rußland die Aktivität westlicher Militärflugzeuge im Baltikum nicht dulden werde. Zur Unterstreichung seiner historischen Ansprüche auf Kontrolle des Baltikums haben zum zweitenmal innerhalb weniger Tage russische Militärmaschinen den Luftraum Estlands verletzt. Die Nato ihrerseits verlegte letzten Montag vier Jagdflugzeuge vom Typ F-16 in Richtung Litauen. Gleichzeitig wurden im März zwischen Tallinn und Moskau gegenseitig Diplomaten ausgewiesen – das erinnert an die Zeiten des Kalten Krieges. Diese Art der Einschüchterung geht auf Beispiele aus den dreißiger Jahren zurück. Natürlich herrschen jetzt ganz andere Verhältnisse als damals unter Sowjet-Diktator Josef Stalin – aber probieren wird man ja wohl noch dürfen. Entscheidender sind vielleicht andere, wenig bekannte Tatsachen. Als die Rote Armee im Juni 1940 Estland besetzte, verschleppte sie nicht nur die gesamte estnische Regierung samt dem Staatspräsidenten auf Nimmerwiedersehen hinter den Ural. Sie raubte auch die mit Edelsteinen geschmückte Amtskette des Präsidenten, die heute im Kreml aufbewahrt wird. Bis heute weigert sich Rußland, dieses Symbol estnischer Staatlichkeit zurückzugeben – ein grotesker und zum Nachdenken anregender Zustand, vor allem wenn man bedenkt, wie penibel das Problem der Restitution in anderen Fällen gehandhabt wird. Hinzu kommt noch ein besonderer Umstand: Bis heute hat auch das „demokratische“, postkommunistische Rußland sich geweigert, die heutige estnisch-russische Staatsgrenze völkerrechtlich anzuerkennen. Estland und in gewisser Weise auch Lettland haben also keine hundertprozentig definierte Staatsgrenze zum großen russischen Nachbarn. Es besteht die Möglichkeit, daß Rußland künftige Meinungsverschiedenheiten um die in Estland lebende russische Minderheit als Druckmittel einsetzt. Wer den Finnischen Meerbusen auf der Linie Helsinki-Tallinn/Reval-St. Petersburg durchquert wird sich nicht wundern, daß die meisten – jedenfalls die politisch maßgeblichen – Russen sich im Kronstädter Dreieck auf demütigende Weise eingesperrt vorkommen. Es ist klar, daß sie alles tun, um eine „Anerkennung“ dieses Zustandes zu vermeiden oder hinauszuzögern. Man kann nur davor warnen, sich den Illusionen eines „friedlichen Zusammenlebens“ hinzugeben: die Esten werden sich stets gegen jede russische Bevormundung wehren – und die Russen werden die Esten stets als im Grunde nicht satisfaktionsfähiges Volk betrachten, welches gar nicht unabhängig sein darf. Die Nato-Mitgliedschaft öffnet interessante Perspektiven: Schon kurz nach der Wende rief ein britischer Offizier Empörung bei den Esten hervor, als er erklärte, Estland und das Baltikum seien im Ernstfall nicht zu verteidigen. 1939 lautete eine der wirksamsten Parolen französischer Antikriegspropaganda: „Mourir pour Dantzig?“ (Sterben für Danzig?) Die Russen werden alles tun, um unter der neuen Parole „Mourir pour l’Estonie?“ die westliche Bündnistreue auf die Probe zu stellen. Hier wird sich beweisen, ob nicht am Ende der alte Finne Jakobsen doch noch recht behält. Übrigens: natürlich befindet sich Rußlands Armee in einem desolaten Zustand. Aber wer weiß, ob sie in fünf oder zehn Jahren nicht ganz anders aussehen wird? Nato-Osterweiterung 2004: Zum ersten Mal wechselt ein Teil des ehemaligen sowjetischen Territoriums die Fronten
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