Die zwei Seelen, die, ach, in der deutschen Brust wohnen, mögen heute arg verdünnt ihren pragmatischen Widerhall finden: in der Wahl des günstigeren Telefonanbieters vielleicht oder der Entscheidung zwischen Bockbier und Glühwein. Wer mag schon von Urbildern, von Phänotypen reden, wo es um Mentalitäten geht, die sich heute gängigerweise auf wirtschaftlichen oder lebensgestalterischen Märkten messen? – Tief unter der Oberfläche führen sie aber bis heute ihr Eigenleben, jene Archetypen, die unser Gemüt so mächtig in der Nibelungensage ausprägte: Siegfried von Xanten, jener anarchische Emporkömmling, vom sagenhaften Zauber des Gelingens umwoben, und sein Gegenspieler Hagen von Tronje, jene preußische Urgestalt, dieses phantasielose, allenfalls sippentreue Urmassiv, bestenfalls zum Prototyp des Etatisten geeignet. Diese beiden also prallen aufeinander und können sich schlechterdings nicht verstehen. Joachim Fernau (1909-1988), der unvergessene Großmeister unterhaltsamer Geschichtsbetrachtung, nannte seine in den sechziger Jahren zigtausendfach verkauften „Disteln für Hagen“ eine „Bestandsaufnahme der deutschen Seele“. Für Fernau ist Hagen das Deutsche – oder: der Deutsche – schlechthin. In Siegfried hingegen erscheint eine vom „Volk“ ersehnte Lichtgestalt, ein Ausnahme- und Übermensch, dessen Glanz und Feuer aber schwer zu ertragen war und den es deshalb auszumerzen galt. Zwischen die Fronten geraten allerlei Nebenformen menschlicher Existenz, von Gunther, dem Herrscher als „nettem Menschen“ (Joachim Fernau), über den dauerjugendlichen Königsbruder Giselher bis zum tragischen Hildebrand, dem Sohnesmörder. Die weiblichen Gegensätze sind in Brunhilde und Kriemhild verkörpert. So hält die Sage der Vorväter ein Panoptikum an Gestalten und menschlichen Handlungsweisen bereit. Die sagenhaft schlechte Nibelungen-Verfilmung von Uli Edel und der Klamauk von Tom Gerhardt im vergangenen Jahr haben eine Konjunktur des alten Stoffes eher verhindert denn befördert. Rein wissenschaftlich ist die Herangehensweise eine komplizierte: Ältere Mythen wie die Wälsungen-, die Thi-dreksage und das Atlilied fließen in das – im Gegensatz zu seinen Urtexten bereits christlich unterfütterte – Nibelungenlied des 11./12. Jahrhunderts ein. So wirken viele Details der Geschichte wie angestückt. Woher etwa kennt Brunhilde Siegfried, der doch als Vasall des um sie freienden Königs Gunther auftritt? Woraus erklärt sich Hagens Argwohn gegenüber Siegfried von Anfang an? Bisherige Werke, von dröger Wissenschaftsliteratur abgesehen, haben diese Fragen erzählerisch ganz unterschiedlich gelöst. In seiner Weise des Nibelungenlieds ging Fernau sezierend vor, stellte alte Texte und mittelalterlichen Epos nebeneinander, kommentierte und wertete. Den Kummer um eine fehlende moderne Übertragung der „Nibelungen Not“ faßte er derart zusammen, daß wir „die alte Sprache nicht mehr auskosten können“; unsere heutige habe „den Teufel in sich, sie ist so kalt und desillusionierend wie das Neonlicht“. Gelungen – aber die alten Texte außer acht lassend – erzählte in den Siebzigern der große Schriftsteller Franz Fühmann den Stoff nach, und noch später hatte sich Phantasy-Autor Wolfgang Hohlbein mit einer geradezu fulminanten – weil durch und durch in konservativem Geist gehaltenen – Verteidigung Hagen von Tronjes an eine populäre Deutung des Mythos gewagt. Sagenkreis zusammengeführt, ein virtuoses Mosaikspiel Den Versuch, in einem einzigen Erzählfluß die einzelnen, gelegentlich sich widersprechenden Versatzstücke des bis nach Island und Skandinavien ausgedehnten Sagenkreises zusammenzuführen, hat nun Baal Müller unternommen. Eine fiktive Einklammerung des Geschehens ermöglicht dieses virtuos gelungene Mosaikspiel: Müller, promovierter Philosoph und Germanist, läßt Hildebrand, jene altdeutsche Heldengestalt, in nächtlicher Stunde einem Einsiedler die Geschehnisse am Königshof zu Worms und in Etzels Saal berichten – die Geschichte von der „Nibelungen Not“. Mittels jener gelegentlich da-zwischengeschalteten Rahmenhandlung – im Gespräch zwischen Hildebrand und Einsiedler – werden abweichende Versionen und alte Legenden erörtert und geklärt. Die Idee ist klug, die Umsetzung ohne rhetorisch bleierne Fingerzeige denkbar schwierig: Müller ist also ein echtes Kunststück gelungen. Zu einem hervorragenden Werk wird dieses Buch von in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichem Format (querliegendes DinA4) vollends durch die bestechenden Illustrationen Linde Gerwins. Stilisiert, typisiert, düster, so zeichnet sie die Nibelungen und mit ihnen alle Haupt- und Nebenfiguren, die das deutsche Gemüt auch heute noch bevölkern. Baal Müller, Linde Gerwin: Die Nibelungen. Nach alten Quellen neu erzählt. Arun-Verlag, Uhlstädt-Kirchhasel 2005, 192 Seiten, gebunden, Abbildungen, 24,95 Euro Der Fluch des Drachen: Bildmächtig und zeitgenössisch – Saga von Liebe, Triumph, Gier, Verat und Tod foto: aus dem besprochenen Buch