Wer es gut meint mit der deutschen Literatur, der kramt Kleists Michael Kohlhaas, Goethes Götz von Berlichingen und Schillers „Räuber“ Karl Moor, diesen Verbrecher aus verlorener Ehre, als Prototypen aus der Schatzkiste großer literarischer Vorbilder für einen Stoff heraus, dessen erstaunliche Filmkarriere vor fünfzig Jahren mit „Ein Mann sieht rot“ begann. In Deutschland startete der Film mit Charles Bronson am 1. November 1974. In den USA war er unter dem Titel „Death Wish“ schon ein paar Monate vorher in die Kinos gekommen.
Bronson hatte zuvor als furchtloser Draufgänger auf sich aufmerksam gemacht, vor allem natürlich – noch ohne Schnauzbart – durch die Rolle des Rächers mit der Mundharmonika in Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968). Aber was war so besonders an diesem mit eher kleinem Budget gedrehten Film, der anschließend mit über 20 Millionen Dollar das Siebenfache seiner Produktionskosten einspielte?
Er konterkariert, was man heute wohl als gängige Narrative bezeichnen würde. Es geht um ein Justizsystem, das Opfer schwerster krimineller Gewalt beziehungsweise deren Angehörige frustriert zurückläßt, weil es unfähig ist, die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Es ist eine Frustration, mit der sich hierzulande gerade wieder viele identifizieren können, wenn sie hilflos mit ansehen müssen, wie Menschen Zeit und Raum für schwerste Straftaten bekommen, die der Staat längst außer Landes hätte schaffen müssen.
Der Romanvorlage war eher mäßiger Erfolg beschieden
Im ersten „Ein Mann sieht rot“-Reißer von 1974 fallen Frau und Tochter von Paul Kersey (Charles Bronson) einem brutalen Gewaltakt zum Opfer. Kerseys Frau stirbt im Krankenhaus, für seine Tochter besteht wenig Hoffnung. Der Filmheld reagiert zunächst mit Verzweiflung und Resignation. Die traumatische Erfahrung verändert ihn. Nachdem er eher zufällig an eine Schußwaffe gelangt ist, kommt es zur Begegnung mit einem bewaffneten Räuber. Kersey erschießt ihn. Die Tat erweist sich als Dammbruch. Auf einmal geht der frühere Friedensstifter über Leichen. Zwar achtet er darauf, daß seine Opfer kriminell sind, doch klassische Notwehrsituationen sind die Tötungsdelikte nicht.
Der Romanvorlage von Brian Garfield war eher mäßiger Erfolg beschieden. Die Hauptfigur war ein ganz und gar nicht zu Heldentum ausersehener Durchschnittstyp, der unter dem Eindruck einer schweren seelischen Erschütterung den moralischen Halt verliert. Ihn prägt eine traurige Todessehnsucht, der das Buch seinen Titel „Death Wish“ verdankte. Was dann nach einigen Umbesetzungen im Vorfeld der Dino-De-Laurentiis-Produktion unter der Regie von Michael Winner und mit Rauhbein Charles Bronson anstelle von Jack Lemmon in der Hauptrolle aus seiner Geschichte wurde, irritierte Autor Garfield.
Vom braven Bürger zum Exekutor
Nicht nur ihn. Heftiges Sperrfeuer aus dem Lager der politisch Hyperkorrekten, die es schon damals gab, blieb selbstverständlich nicht aus. In Deutschland kam der Film auf den Index. Die Kritiker monierten zu Recht, daß bei Kerseys Gewaltexzeß die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt ist. Noch schwerer wog aber vermutlich, daß der Film eine gewaltige Provokation für das linke Hollywood war, das sich gerade an der Grausamkeit des Vietnamkriegs abarbeitete. Der Kriegsinvalide Ron Kovic verkörperte auf einer Reihe von Antikriegsdemonstrationen seit Anfang der Siebziger die Bekehrungsgeschichte vom patriotischen Soldaten zum engagierten Friedensaktivisten.
In „Ein Mann sieht rot“ aber ist es genau umgekehrt. Hier wird der Paulus zum Saulus: Kersey, anfangs eher gemäßigt und gegen Gewalt, mutiert wie der um seine Pferde geprellte Roßhändler Kohlhaas vom braven Bürger zum scheinbar skrupellosen Selbstjustiz-Exekutor. Das erhitzte die auf Pazifismus getrimmten Gemüter.
Der Selbstjustiz-Krimi zelebriert Männlichkeit
Natürlich wäre ein Rückblick auf den Film, der unter dem Originaltitel „Death Wish“ 2016 noch einmal in die deutschen Kinos kam, neu verfilmt mit Bruce Willis in der Bronson-Rolle, nicht vollständig ohne Verweis auf Kerseys Seelenverwandten Dirty Harry im gleichnamigen Film von Don Siegel aus dem Jahr 1971. Dort war es Clint Eastwood, der es als Polizist mit der Gesetzestreue und Verhältnismäßigkeit der Mittel im Kampf gegen Schwerstkriminalität nicht so genau nahm.
Und genau wie Eastwood mit Dirty Harry ging auch Kollege Bronson mit „Death Wish“ in Serie: 1982 kam „Death Wish II“ (deutscher Titel: „Der Mann ohne Gnade“). Weitere Fortsetzungen folgten 1985, 1987 und 1994. Charles Bronson konnte seinen Ruf als harter Hund aber auch in anderen Rollen pflegen, in „Kalter Hauch“ (1972) beispielsweise oder in „Ein Mann wie Dynamit“ (1983).
Mit dem Selbstjustiz-Krimi war ein neues Filmgenre geboren. Die herbe, wortkarge Männlichkeit, die Bronson und Eastwood auf der Leinwand zelebrierten, kann man als das radikale Gegenprogramm zu den Hippie-Schlaffis und Sandalenträgern betrachten, die damals die urbanen und vor allem universitären Räume der Vereinigten Staaten bevölkerten und deren Kino-Leitsterne Typen wie Dustin Hoffman, Robert Redford oder Jane Fonda waren.
Auch Jodie Foster wurde zum Racheengel
Die Figur des rot sehenden Helden, den extreme Leiderfahrungen zur Furie machen, hat den 2003 verstorbenen Darsteller überlebt. Mel Gibson, Kevin Bacon und mit Jodie Foster sogar eine Frau eiferten Charles Bronson in eigenen Filmgeschichten nach. Mel Gibson macht in „Kopfgeld“ (1996) kurzen Prozeß mit den Entführern seines Sohnes, anstatt das geforderte Lösegeld zu bezahlen. In „Auftrag Rache“ (2010), der US-Version einer britischen Miniserie, ist die Selbstjustiz-Aktion in eine komplexe Verschwörungsgeschichte eingewoben. „Todesurteil“ aus dem Jahr 2007 mit Kevin Bacon als eiskaltem Rächer variiert die Originalidee von Brian Garfield nur unwesentlich.
Im gleichen Jahr wurde Jodie Foster als Überlebende eines brutalen Raubüberfalls zum gemeingefährlichen Racheengel. Die „Todessehnsucht“ hat hier einen anderen Namen: „Die Fremde in dir“. So hieß der packende Reißer von Neil Jordan. Auch Liam Neeson in der „96 Hours“-Kinoreihe, Denzel Washington als „Equalizer“ und Keanu Reeves als „John Wick“ sind unbarmherzige Exekutoren einer nicht staatlich geprüften Nemesis. Wenn hier die Helden das Recht in die eigenen Hände nehmen, dient das freilich vor allem als Aufhänger für möglichst viele rasch aufeinanderfolgende, rasante Actionszenen. Trotzdem ist unübersehbar, daß kernige Virilität im Kino nach wie vor blendend funktioniert und viele gern zusehen, wenn Filmhelden rot sehen.
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