Senkrecht gestartet und genauso abgestürzt. So verlief die Karriere von Milli Vanilli. Als ein experimentelles musikalisches Gesamtkunstwerk möchte Frank Farian das von ihm erfundene, an den Namen seiner Freundin Milli sowie an handelsübliches Softeis angelehnte Poprap-Duo verstanden wissen, als er in einer Art Übersprungshandlung 1990 den Schwindel auffliegen läßt: Der erfolgreiche Musikproduzent hat zwei Sänger ganz groß rausgebracht, die nie selbst gesungen haben.
Der Skandal, den Farians Enthüllung auslöste und den in Zeiten von KI und Chat-GPT viele nicht mehr verstehen werden, gehört zu den ganz großen Schlagzeilengewittern in der Geschichte der Popmusik. Und man kann nur hoffen, daß der Film von Simon Verhoeven, der den Werdegang der beiden Sänger von Milli Vanilli, Robert Pilatus und Fabrice Morvan, jetzt kinotauglich nacherzählt, genauso erfolgreich wird, wie es Milli Vanilli waren.
Ein fast makelloser Musikfilm
Oder wie einst Helmut Dietls „Schtonk!“ (1992) über den anderen großen Fälschungsskandal der Achtziger: die angeblichen Hitler-Tagebücher. Ein solcher Erfolg wäre nämlich hochverdient, weil Verhoeven ein fast makelloser Musikfilm gelungen ist, der beiden Seiten der tragisch zu Ende gegangenen Erfolgsgeschichte, Tätern wie Opfern, gerecht wird, und weil „Girl You Know It’s True“ als Komödie genauso gut funktioniert wie als Tragödie.
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Für die komische Note sorgt vor allem Matthias Schweighöfer in der Rolle des langmähnigen Musikproduzenten. Dabei ist der gebürtige Anklamer mit seiner hohen Stimme eigentlich eine auf den ersten Blick eher unpassende Wahl für den Mann, der etwa in dem Boney M.-Lied „Rasputin“ für die tiefsonorige Männerstimme sorgte. Doch Schweighöfer findet sich in der Rolle blendend zurecht, findet seine eigene, vielleicht nur bedingt authentische, aber in sich stimmige Version des genialen Komponisten und Arrangeurs, den man nur gut genug kennen hätte müssen, um keine fatalen Fehlentscheidungen zu treffen.
Zweifelhafter Ruf als Strippenzieher
Schon als Strippenzieher hinter dem Disko-Phänomen Boney M. hatte Farian sich den zweifelhaften Ruf eingehandelt, er lasse da ja nur „Tanzmarionetten“ auftreten. Der einzige Mann in dem Quartett, Bobby Farrell, hat genau wie die beiden „Sänger“ von Milli Vanilli nie selbst gesungen, sondern nur auf der Bühne getanzt und Faxen gemacht. Man hätte gewarnt sein können. Verhoeven hat in sein Drehbuch eine wunderbare Metapher eingebaut, um Farian zu charakterisieren: Kartoffelsuppe.
Die serviert der gewiefte Produzent seinen Gästen und erinnert damit an die schwierigen Nachkriegsjahre, in denen die Suppe zum Retter in der Not wurde: Wasser, Salz, eine Möhre und ein paar Kartoffeln. „Lernen, aus nichts etwas zu machen”, erläutert Farian sein Erfolgsrezept. Robert und Fabrice wird er damit eine Suppe einbrocken, die sie nicht auslöffeln können.
Tragik um Robert Pilatus
Für die Tragik in „Girl You Know It’s True“ sorgt die Geschichte des im Alter von nur 33 Jahren an den Folgen seiner Rauschgiftsucht gestorbenen Robert Pilatus (Tijan Njie), der deutschen Hälfte von Milli Vanilli. Aus dessen Perspektive erzählt Verhoeven, wenn Farian nicht im Bild ist. Er zeigt ihn als aufstrebenden Adoptivsohn einer Münchner Spießerfamilie. „Klaus und Renate engagieren sich in einem Verein für Afrika“, heißt es über die Eltern. Mit der Adoption eines schwarzen Kindes wollen sie, so interpretiert es der Film, in erster Linie sich und anderen etwas beweisen.
Als der Junge herangewachsen und sich seines Andersseins bewußt geworden ist, sieht er im Fernsehen Boney M. Er fragt seine (nicht adoptierte) Schwester, ob er mit denen verwandt sei. Als bei ihm die afrikanischen Wurzeln immer stärker durchkommen und er mit Breakdance-Auftritten erste Erfolge feiert, ist das für seinen Adoptivvater nur Rumgehampel in der Fußgängerzone. Gern würde Rob seinen richtigen Vater kennenlernen – in Verhoevens dramaturgisch durchdachtem Drehbuch ein wichtiges Subthema.
Milli Vanilli sind ein „Pop-Monster“
Ein außer Kontrolle geratenes „Pop-Monster“ nennt er Milli Vanilli. Der Filmemacher, der als Sohn der Schauspielerin Senta Berger und des Regisseurs Michael Verhoeven einer klassisch linken Sozialisierung und den damit einhergehenden ideologischen Festlegungen kaum entgehen konnte, versuchte anläßlich der Premiere des Films in Berlin, dem Skandal auch einen Rassismus-Stempel aufzudrücken, die hochdotierten Lippenbeweger zu Opfern zu stilisieren: „Sie wurden als Sündenböcke mißbraucht in einer von Weißen dominierten Musikindustrie.“
In Wahrheit geht es in dem Film trotz zweier farbiger Hauptdarsteller um kaum etwas weniger als um Rassismus. Es geht um Dummheit, Gier und fatale Selbstüberschätzung. Und die sind bei Rob zu seinem Unglück etwas stärker ausgeprägt als bei seinem französischen „brother forever“ Fabrice (Elan Ben Ali), der anderen Hälfte des Duos.
Das kann nicht mehr lange gutgehen
Ende der Achtziger beginnen Rob und Fab gemeinsam aufzutreten. Verhoeven zeigt sie mit sanfter Ironie als Tänzer im Hintergrund zu einem schnöden Poplied namens „Hot Boys“, das für die ARD-Musiksendung „Formel Eins“ aufgezeichnet wird. Im Mai 1988 beginnt dann mit „Girl You Know It’s True“, der von Farian umarrangierten Fassung eines Liedes der US-Gruppe Numarx (deren Mitglieder ihren Ohren nicht trauen, als das Lied auch die USA erobert), der kometenhafte Aufstieg der glorreichen Zwei. Sie landen drei Nummer-1-Hits in den USA. Der Erfolg gipfelt in einer Grammy-Ehrung.
Die Hampelmänner verdanken das ihren künstlichen Haaren, ihren durchtrainierten Körpern und den Stimmen unbekannter Sänger wie Brad Howell und John Davis. Die beiden Pseudo-Musiker spüren, daß das nicht mehr lange gutgehen kann. Trotzdem planen sie eine Welttournee. Realitätsverlust total. Der echte Fabrice Morvan, der bei der Premiere mit dabei war, gibt zu, er und Rob seien „sehr naiv“ gewesen. „Wir waren jung, hatten keine Ahnung.“ Und deshalb seien sie Frank Farian damals in die „Falle“ gegangen. So sieht er es heute.
Rauschgift- und Alkoholexzesse bleiben im Hintergrund
Verhoeven geht auffallend wohlwollend mit seinen beiden Hauptfiguren um und verbannt deren Sex-Eskapaden während der zwei Jahre, in denen sie auf der Erfolgswelle schwammen, diskret in Dialoge, anstatt sie, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, in Bild und Ton auszukosten. Auch Rauschgift- und Alkoholexzesse bleiben im Hintergrund. Trotzdem führt kein Weg an den nackten Fakten vorbei: Rob und Fab sind nicht an Frank Farian gescheitert, nicht an den scheinheiligen Speichelleckern der gierigen US-Musikindustrie, nicht am Liebesentzug durch enttäuschte Fans und nicht an Problemen in der Kindheit, sondern am eigenen Unvermögen.
Sie konnten mit dem plötzlichen Ruhm nicht vernünftig umgehen, lebten in Saus und Braus, steigerten sich in ein falsches Selbstbild hinein, das ihnen wie Dostojewskijs legendärem „Spieler“ vorgaukelte, daß sich morgen, morgen alles wenden und bei der nächsten Platte alles anders laufen werde. Hätte namentlich Robert Pilatus sich in die Begrenztheit des eigenen Könnens gefügt und seine Rolle als Frank Farians Kunstprodukt vorbehaltlos angenommen, vielleicht wäre er dann heute noch am Leben und hätte sich wie sein Freund und „ewiger Bruder“ Fabrice die eigene Geschichte im Kino anschauen können. Er hätte einen tollen Film zu sehen bekommen.
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Filmstart von „Girl You Know It’s True“ war am 21. Dezember.