Vielleicht sind Filme aus dem Hause Marvel in Wahrheit ja so eine Art gesellschaftliches Großexperiment. Vielleicht wollen die Produzenten eigentlich nur herausfinden, wie viel Blödsinn die breite Masse, namentlich die jugendliche breite Masse, zu schlucken bereit ist, ehe sie anfängt zu streiken.
Das ließe sich an der Kinokasse messen und damit soziologisch relevante Rückschlüsse darauf zu, wie weit man bei der Infantilisierung und Entmündigung des Bürgers einerseits und der abenteuerlichen Neudefinition von gesellschaftlichen Grundkonstanten wie Geschlecht, Ehe und Ethnizität andererseits noch gehen kann, bevor die Schreikrämpfe, die bislang nur unbedeutende Minderheiten heimsuchen, überhandnehmen.
Sowohl abenteuerlich als auch zum Schreien ist auf jeden Fall das neueste Produkt aus dem Hause Marvel (früher Comic-Verlag, heute steinreiches Hollywood-Studio): „Dr. Strange in The Multiverse of Madness“, also „Dr. Seltsam im Multiversum des Wahnsinns“. Der Inhalt ist, wie der Titel verheißt, total verrückt. Wie wir schon beim letzten „Spiderman“-Film „No Way Home“ (ebenfalls aus dem Hause Marvel) lernen durften, gibt es nicht nur ein Universum, sondern viele parallele Universen, die zusammen das Multiversum bilden.
Fakten schaffen
Das klingt nach einer Beschreibung unserer gesellschaftlichen Realität, in der Identitätsextremisten wie Saskia Esken oder Gloria Viagra schon länger den Verdacht nähren, nicht hier geboren, sondern Irrlichter aus dem Multiversum zu sein. Zwar enthält der Film vieles, das ihn als Science-Fiction identifiziert. Daß man jedoch zwei Stunden lang auffällig oft Frauen in klassischen Männerrollen (auch als Bösewicht!) sehen darf, zeigt schon: Es steht zwar Fiktion drauf auf diesem neuen Superhelden-Spektakel, aber gleichzeitig möchte man auch Fakten schaffen.
So ähnlich wie hierzulande mit dem penetranten Propagieren von Frauenfußball in den bundesdeutschen Sport- und Nachrichtensendungen, einschließlich der Beförderung von Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg zur neuen ZDF-Beisitzerin der Champions-League-Studioanalyse. Da erscheint die Theorie vom Multiversum auf einmal gar nicht mehr so abwegig. Denn man fragt sich unwillkürlich: Bin ich aus Versehen in eine Parallelwelt geraten, wo die Regeln, mit denen ich groß geworden bin, außer Kraft sind?
Klangbombast
Im Zeitalter des Geschlechtsrevisionismus bekommt auch die Maxime von Maximalhexe Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen) eine ganz neue Lesart. Sie lautet: „Ich bin kein Monster, ich bin eine Mutter!“ Die übermächtige Gegenspielerin von Dr. Strange (Benedict Cumberbatch) will nämlich eigentlich nur ihre verlorenen Kinder zurückgewinnen. Das ist der Auslöser des verwirrenden kosmischen Zirkus um weiße Vishanti-Magie und dunkle Macht („Darkhold“), mit dem man sich als Zuschauer genauso herumplagen muß wie mit dem Klangbombast, der die visuell überambitionierten visuellen Darbietungen begleitet, durch die Dr. Strange und seine heroischen Mitstreiter für erhöhten Puls sorgen.
Für den ersten Herzrhythmuserhöher sorgt ein Zyklopenkrake oder Krakenzyklop – zoologisch exakte Zuschreibungen sind bei Superheldenfilmen schwierig –, der wie dereinst sein vergleichsweise zahmer Affenkollege King Kong eine amerikanische Großstadt in Furcht und Zittern versetzt. Zum Glück greift Dr. Strange ein, der Obermagier mit der Lizenz zur Transzendenz, der multiversalen Transzendenz, um genau zu sein. Und wer das nicht versteht, für den noch mal in Normaldeutsch: Dr. Strange kann von einem Universum ins andere reisen. Begleitet wird er dabei von America Chavez (Xochitl Gomez) alias Miss America. Daß die ausgerechnet von einer Latina verkörpert wird, ist sicherlich als kleine Würdigung der Verdienste von Biden-Vorgänger Donald Trump gemeint.
Phänomenale Optik
Die Optik des Opus ist, wie bei Filmen aus dem Marvel-Studio Standard, phänomenal. Einige der computergenerierten Kulissen erinnern an die surrealistischen Gemälde von Salvador Dalí oder Max Ernst. Natürlich dürfen auf der Leinwand auch grün-rote Knabenmorgenblütenträume endlich wahr werden und der Himmel in Regenbogenfarben erstrahlen. Aber zum Glück kann man in einem multiversalen Kosmos dem Flower-Power-Kitsch auch ganz schnell wieder entrinnen und sich in graue Eiswüsten flüchten. Für irgendwas muß so ein Multiversum ja schließlich gut sein!