Die Medienhysterie um die Ruderin Nadja Drygalla wirft zwei Fragen auf: Ist dies eine neue Etappe der geistig-moralischen Erosion des Landes und insofern eine Negation seiner Ursprünge? Oder kommt die Bundesrepublik in ihr zu sich selbst? Der Vorwurf an Drygalla, sich nicht von ihrem Freund, einem ehemaligen Sportkameraden und NPD-Mitglied getrennt zu haben, läßt an Brechts „Ballade von der Judenhure Marie Sanders“ denken, deren Geliebter „zu schwarzes Haar“ hat:
„Besser, du bist heute nicht zu ihm /wie du gestern zu ihm warst.“ An gleichlautenden Ratschlägen hat es auch bei Frau Drygalla nicht gefehlt, deren Geliebter eine braune Seele haben soll. Den gängigen Einwand: „Aber das sei doch etwas völlig anderes!“, kann man getrost wegwischen. Die Vorzeichen haben sich geändert, doch die Instinkte und Verhaltensmuster sind die gleichen und abrufbar.
Die soziale und psychische Vernichtung Unschuldiger
Ganz klar hat die Kampagne eine sexuelle Konnotation, wie man sie auch in des verklemmten Julius Streichers Stürmer-Propaganda nachgewiesen hat: Da ist die blonde Schöne als Objekt der Begierde, die vom animalischen King-Kong-Nazi in Beschlag genommen wird. Was für eine Beleidigung des ehrbaren Demokraten. Ein seriöser Journalismus würde danach fragen, ob eine NPD-Mitgliedschaft zwingend die Bewunderung für Adolf Hitler nahelegt. Oder, ob man die Persönlichkeit eines Menschen auf seine Parteizugehörigkeit reduzieren darf, ob das nicht eine totalitäre Entmenschlichung ist. Doch das zu erörtern, wäre riskant für den, der zur Gemeinschaft der „Anständigen“ (so Ex-Kanzler Gerhard Schröder) dazugehören will.
Einfacher ist es, die soziale und psychische Vernichtung einer jungen Frau zu betreiben, die keinem etwas getan hat. Übrigens: Auch ihr Freund hat offenbar niemandem etwas getan, man kann ihm nur die falsche Gesinnung vorwerfen. Es war eine Spezialität des Stalinismus, private Loyalitäten zu zerstören, um das atomisierte Individuum politisch form- und verfügbar zu machen. Sippenhaft heißt nicht unbedingt, in Haft genommen zu werden, sondern jemanden für das Handeln eines Dritten haftbar zu machen. Allerdings kann die Haftung tödliche Formen annehmen. Das reicht vom Selbstmord bis zur stalinistischen Praxis, selbst Zwölfjährige, die ihre Eltern nicht denunzieren wollten, zu Verbrechern zu erklären.
Ein Lehrstück über den aktuellen Journalismus
Der Redakteur einer Lokalzeitung schreibt: „Es gehört zur Fürsorge-Pflicht eines Sportverbandes, daß er über die Gesinnung seiner Sportler Bescheid weiß.“ Die Verbindung der Gesinnungskontrolle mit dem Anspruch sozialer und pädagogischer Fürsorge war schon das Herzensanliegen des Chefs der DDR-Staatssicherheit, Erich Mielke. Der Sportfunktionär Michael Vesper, nach der Intimbeziehung Drygallas befragt, antwortete: „Wenn wir da nur einen leisesten Hinweis in diese Richtung hätten, wäre diese Person nicht Mitglied unserer Mannschaft.“ Diese Person! Ihr Name sei ausgelöscht. Da fehlt nur noch, daß man Drygalla aus Gruppenfotos herausretuschiert.
Vor allem erleben wir ein Lehrstück über den aktuellen Journalismus. Gemeint sind nicht die defizitären, im Grunde bedauernswerten Antifa-Autoren, sondern die durchschnittlichen Handwerker. Bundesdeutsche Journalisten sind Staatsmenschen par excellence, das heißt, in ihnen manifestieren sich am klarsten die Mechanismen, die innere Logik und die Intentionen des Staates. Das ergibt sich aus ihrem Doppelcharakter. Einerseits betätigen sie sich als Sinn- und Ideologieproduzenten. Sie haben den Ehrgeiz, die Entwicklungen nicht nur zu kommentieren, sondern auch voranzutreiben, ihre Richtung zu bestimmen, die Stichworte zu liefern, Macht auszuüben.
Andererseits ist ihre Macht nur geliehen und ihre Stellung prekär. Sie sind weniger Ideengeber als Transmissionsriemen, und wenn sie die Machtverhältnisse falsch einschätzen, verschwinden sie sang- und klanglos in der Versenkung. Aus dieser Unsicherheit begeben sie sich in die Sicherheit des Rudels. Von dort agieren sie mit brutaler Verschlagenheit. Andererseits verfallen sie in sentimentale Wehleidigkeit, wenn es schlecht aussieht.
Mimetischer Reflex auf das Dritte Reich
Und es sieht heute alles andere als gut aus, selbst für sie nicht. Angesichts des fundamentalen Euro-Irrtums vermag niemand einzuschätzen, wie das Land sich in einem Jahr befinden wird. Die Journalisten, die mehrheitlich ihrem Rudelinstinkt gefolgt waren und die Euro-Ideologie propagierten, haben allen Grund, verunsichert zu sein. Was liegt da näher, als zur bewährten Nazi-Jagd zu blasen?
Aber die Sache liegt tiefer. Mit der Begründung des Gegenentwurfs fixiert die Bundesrepublik sich jeden Tag mehr auf das Dritte Reich, das längst ihren wichtigsten Sinnstifter darstellt. Ist es da nicht unausweichlich, daß ein dialektischer Umschlag erfolgt und sie Steuerungsmechanismen, Zustände und Verhaltensweisen von damals – unter konträren Vorzeichen – reproduziert und mimetisch nachvollzieht? Der Journalist als Staatsmensch legt diese These nahe.
Doch es gibt Ausnahmen, sogar in der Presse. Und Verteidigungsminister Thomas de Mazière hat seinen Widerwillen über die Kampagne mit der Deutlichkeit ausgedrückt, die ihm möglich ist. Der größte Lichtblick aber ist, daß Nadja Drygalla trotz allem zu ihrem Freund hält – daß es in Deutschland noch soviel Anstand gibt.
JF 33/12