Die wenigsten wissen, daß nicht Angela Merkel den Satz „Wir schaffen das“ prominent in der politischen Debatte als Heilsversprechen oder als gänzliche Kapitulation vor der selbst verursachten orientierungslosen Politik implementiert hat. Es war ihr heute kaum mehr bekannter Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD), der am 22. August 2015, wenige Tage vor Merkels großem Auftritt vor der Bundespressekonferenz, erstmals „Wir schaffen das“ als kollektives Ziel der Deutschen zur Bewältigung der Flüchtlingswelle 2015 befehlsartig ausgab.
Mit den heiligen Worten „Frieden, Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit“ steckte Sigmar Gabriel die Stoßrichtung der deutschen Asylpolitik auch sprachlich fest. Im Umkehrschluß hieß dies, daß jeder, der nur leise Kritik an den Hunderttausenden hauptsächlich männlichen, vollbärtigen Flüchtlingen, also an dieser maskulinen Reisegruppe in Überzahl, übte, gegen Frieden, Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit verstieß, somit kraft Wortes oder Gedankens aus dem Formenkreis der erhabenen, moralisch erhöhten, selbstgefälligen Humanisten automatisch exkommuniziert wird.
So wurde mit absoluter Bestimmtheit erstmals festgelegt, daß jeder und jede dazu aufgefordert und gezwungen sind, den Strom der vermeintlich Hungernden und Leidenden aller Herren Länder freundlichst aufzunehmen, nichts zu hinterfragen oder zu kritisieren haben. Und so geschah es, daß die politische Debatte recht früh eine eindeutige Richtung einschlug, Abweichler durch die höchste Autorität des Staates und seiner Handlanger in den Medien gescholten wurden.
Das Chaos am Budapester Bahnhof füllte die Zeitungen
Wir können davon ausgehen, daß Gabriels moralischer Appell vom 22. August zumindest seitens des Presseteams von Kanzlerin Merkel mit Argusaugen beobachtet wurde. Koalitionsleben ist eben wie Mikadospielen, jede Bewegung wird im Spinnennetz des Politzirkus vom Mitbewerber registriert, beobachtet und entsprechend beantwortet.
Man stelle sich diese heißen, spätsommerlichen Tage in Berlin vor. Eine Flüchtlingswelle rollt an, die Dienste warnen die Staatskanzleien seit Wochen vor einer anschwellenden Flüchtlingswelle über den Balkan. Griechenland, Serbien, das südöstliche Europa bis Österreich herauf waren betroffen. Das Chaos am Budapester Bahnhof füllte die Zeitungen, ebenso die einer regelrechten Invasion gleichende Situation an der Grenze zu Österreich.
Zudem ereignet sich am 27. August eine über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt gewordene und breit diskutierte Tragödie im burgenländischen Parndorf und fokussierte die gesellschaftliche Debatte noch mehr in Richtung Migration. In einem Kühllastwagen, aus Ungarn kommend, wurden 71 Menschen aus Syrien, Afghanistan, Iran und Irak tot aufgefunden.
Die Bilder verfehlten ihre Wirkung nicht
Sie wurden Opfer von kriminellen Schleppern. Dieses Ereignis, diese menschliche Tragödie, war einschneidend und beherrschte die politische wie gesellschaftliche Diskussion über Wochen massiv. Die Bilder aus Parndorf gingen um die Welt, und sie verfehlten ihr Ziel nicht. Was zuvor als abstrakte, weit entfernte und nicht emotionalisierende Tragödie nur am Rande wahrgenommen wurde, die Flüchtlingskrise, wurde uns mit den Leichensäcken am Autobahnrand in dramatischer Form vor der „eigenen Haustür“ vor Augen geführt.
Die Bilder verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie wurden auch landauf, landab gesendet und vervielfältigt.
Es ist daher nur sehr schwer vorstellbar, daß man Deutschlands politischen Betrieb in diesen Tagen des August 2015 am linken Fuß erwischt hätte. Also brachten sich die jeweiligen Parteiführer in Stellung. Sigmar Gabriel schlug auf, „Wir schaffen das“ war geboren.
„Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“
Nachdem es sich aber bei Gabriel um den eher glücklosen Beiwagen von Angela Merkel, also den Mehrheitsbeschaffer der gefühlt Merkelschen Alleinregierung handelte, nahm im medialen Betrieb eben niemand Notiz. Also begab sich Merkel wenige Tage später in die sommerliche Bundespressekonferenz.
„Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muß sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muß es überwunden werden, muß daran gearbeitet werden. Der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun – zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen –, um genau das durchzusetzen“, war ihr Beitrag, mit dem sie Sigmar Gabriel im Wettkampf um den beliebteren Parteichef übertrumpfen wollte.
Dazu muß man wissen, daß Merkel bereits in den Jahren zuvor ihre Unionsparteien beständig vom bürgerlich-konservativen Spektrum des politischen Radius in das linksliberale, progressive Lager rückte. Ihr Ziel, so schien es, war, nachdem sie bereits den Mitte-Rechts-Bereich erfolgreich abdeckte und an dieser rechten Front keine ernstzunehmende Gefahr erwuchs, das linke Wählerspektrum zu inhalieren.

Das Bild des deutschen Kanzlers hatte sich gedreht
Das lag ihr auch. Beobachter der damaligen Zeit kritisieren sie als Linke, die im Kostüm einer Konservativen auftrat.
Merkels Spruch „Wir schaffen das“ verfehlte sein Ziel nicht. 2016 wurde sie für den als „heroischen Slogan“ bezeichneten Satz von einer österreichischen Holocaustüberlebenden im Rahmen einer Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag gelobt.
Das Antlitz des verhaßten deutschen Kanzlers hat sich endlich gedreht. Wie bereits 2005, als der Deutsche Joseph Ratzinger Papst wurde und sich die Bild mit der Überschrift „Wir sind Papst“ in den wie Balsam auf geschundener deutscher Volksseele empfundenen Vergleich verstieg, lobte man nun Merkel als Vorstufe einer modernen Heiligen im Hosenanzug.
Auch nach zehn Jahren bleibt Merkels Spruch prägend
Sie war geboren, die deutsche Heilige, die Retterin der Flüchtlinge, die Heilsbringerin der Welt. Nach Mutter Teresa von Kalkutta hatte Deutschland endlich eine Frau an der Spitze, die der ganzen Welt zeigte, wie man in aller gespielten Bescheidenheit, aber immer darauf Wert legend, von allen beobachtet zu werden, einfach „gut“ sein kann.
„Wir schaffen das“, rief sie den Notleidenden zu, und binnen Windeseile war die Botschaft in alle Sprachen Nordafrikas und des Nahen Ostens übersetzt, als Einladung an die Hilfesuchenden verstanden. Damit hatte es Merkel endlich geschafft, sie wandelte auf den Spuren eines Barack Obama, der mit „Yes, we can“ das wählende Volk Amerikas segnete, den USA ein neues Selbstverständnis, zumindest für acht Jahre, gab.
Und dieser Satz „Wir schaffen das“ ist auch nach zehn Jahren noch immer so einprägend, wie das „Ik bin ein Berliner“ des John F. Kennedy. Mit dem kleinen Unterschied, daß die Wissenden Kennedy bis heute nach wie vor feiern, aber Merkel trotz eigenem Vermächtnisdienst an ihrem politischen Leben nicht verhindern kann, daß man sie für ihre drei Worte ewig verfluchen wird. Sie gab Deutschland ein neues Selbstverständnis, wenngleich sich dieses als grundlegend falsch herausstellte. (…)
Deutschland war edel und barmherzig
Mit diesem August 2015 setzte jedenfalls der gewaltige Teil des Flüchtlingsstroms richtig ein, der erst Ende 2016 in Relation zu der Masse der vorhergegangenen Monate langsam abflachte, um 2022 wieder Fahrt aufzunehmen, und selbst heute ein gefährliches Drohpotential in sich birgt. Merkel wurde von den Medien dafür ungebrochen gelobt.
Reihenweise rückten Journalisten, Leitartikler und Kommentatoren aus, die ihr medialen Flankenschutz leisteten. Ein regelrechter Glaubenssatz, ein neues Credo, erblickte das Licht der Welt. Deutschland war gut, Deutschland war edel und barmherzig, Deutschland half.
Wie gesagt, ein neues Selbstverständnis war kreiert, gab allen die Möglichkeit, sich in diesen guten Dienst an der Menschlichkeit einzureihen. Jene Merkel, die 2008 während der sogenannten Euro-Krise noch in Athen wegen ihrer Haltung gegenüber dem südlichen Schuldensumpf auf Transparenten mit dem blutrünstigen Diktator verglichen wurde, war die sogenannte „Mutti“. „Mutti Merkel“ war eine gängige Bezeichnung, die ihr über Jahre blieb.
Der Satz war Signal an alle Geflohenen
Ein Jahr später, im August 2016, feierten Medien regelrecht den Jahrestag dieser neuen deutschen Selbstzuschreibung. Man war im Siegesrausch und dachte tatsächlich, daß man allein mit dieser Zauberformel alle damit einhergehenden Probleme bewältigen werde. „WIR SCHAFFEN DAS“ war weniger Appell, sondern mehr ein in die kleinsten Zellen des Staates eindringender Befehl. Und er war ein Signal an die bereits Geflohenen und noch zu Flüchtenden, daß es mit Angela Merkel ein Deutschland gibt, daß alle Wunden der Welt heilen wird. Unzählige Sendungen, Talkrunden, Magazine beschäftigten sich mit diesem PR-Satz aus dem Repertoire eines Sigmar Gabriel. Kritiker gab es nur wenige und die wurden negiert. (…)
Wurde der Satz „Wir schaffen das“ und die damit einhergehende Rechtlosigkeit der deutschen Politik und Behörden als wahrer Akt der Barmherzigkeit und Nächstenliebe kommentiert, kamen in Teilen der Bevölkerung erhebliche Zweifel ob der Tatsache auf, daß diese Barmherzigkeit zu Lasten der Sicherheit des eigenen Volkes ginge. Merkel selbst dürfte es erstmals gedämmert sein, daß der Satz und der damit ausgelöste Zustrom ein schwerer, dem Volk wohl kaum „verkaufbarer“ Fehler gewesen waren.
Das Motto war stärker als das Grundgesetz
Mit Blick auf den Absturz ihrer CDU bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern und der Wahl für das Abgeordnetenhaus in Berlin relativierte sie erstmals vorsichtig die heroisch verehrte Lehrformel einer ganzen Generation von Menschen, die sich blindlinks der Agenda der einsamen Kanzlerin aus dem Osten unterworfen hatte. Nur, es war zu spät. (…)
Im September 2015 wurde das Bundespolizeipräsidium mündlich angewiesen, entgegen der geltenden Rechtslage keine Abweisungen an den deutschen Grenzen durchzuführen. All das bisherige Recht, all das bisherige deutsche Asylgesetz wurden einem einzigen Satz der Kanzlerin de facto unterworfen. Der Satz war stärker als das Grundgesetz. Dieser Satz pickt an ihr wie der Kaugummi an der Schuhsohle.
Angela Merkel gehört selbstverständlich zu den historischen Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Drei konservative Kanzler stechen dabei besonders heraus. Konrad Adenauer, der das Land nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufbauende Kanzler. Helmut Kohl, der Kanzler der Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs des Ostblocks, und eben Angela Merkel, die erste Frau an der Spitze Berlins.
Was hat sie denn konkret geschafft?
Sie war 16 Jahre Kanzlerin, und dennoch reduziert sich jeder wissenschaftliche und politische Nachruf über ihr Wirken auf diesen einen entscheidenden Satz und die darauffolgende Asylwende in Deutschland und das seit zehn Jahren vorherrschende Chaos in Europa. Merkel hatte eben, gewollt oder ungewollt, ideologisch getrieben oder humanistisch bewegt, eine Lawine ausgelöst.
Knapp zwei Millionen Menschen kamen binnen weniger Monate quer durch Europa nach Deutschland. Millionen sollten bis heute folgen. Die Lage in Griechenland und Italien ist ungeklärt, das Sterben im Mittelmeer ist ungebrochen, wenngleich auch nicht mehr im Fokus der Berichterstattung. Kaum gibt es einen EU-Rat der mit diesem Fachgebiet der Migration befaßten Minister, wo nicht in stundenlangen Sitzungen darüber debattiert wird, wie man das Ruder nach zehn Jahren herumreißen könnte.
Merkel ist nicht dumm, sie erkennt selbst, daß dieser einschneidende Moment deutscher, ja europäischer Geschichte mit ihrem Namen auf ewig verbunden bleibt. (…) Was hat sie denn konkret geschafft, wo liegt denn die Verantwortung Merkels? In moralischer Selbstüberhöhung, toleranzbetrunkener Selbstüberschätzung, im Rausch einer wahnhaften Agenda oder einer allzu romantischen Emotion hat sie geltende deutsche sowie europäische Gesetze, wie die Dublin-II- und Dublin-III-Verordnungen, schlicht außer Kraft gesetzt, ausgehöhlt, gebrochen.
Deutschlands Wesen wurde innerhalb von zehn Jahren zerstört
Sie hat mit ihrem Satz regelrecht Millionen Menschen aus aller Herren Länder, von fremden Kontinenten nach Europa gelockt, die Schlepperindustrie unterstützt, das kalte Sterben im Mittelmeer kalkuliert und alle anderen leidtragenden Nachbarländer Deutschlands wie eine räudige Zechprellerin im Stich gelassen. Sie hat die Exekutivkräfte ad absurdum geführt, Kritiker ihrer Politik als Rechtsextreme und Nazis diffamieren lassen.
Sie hat mit Hunderten Milliarden Euro Schaden die Sozial-, Pensions- und Gesundheitsnetze überlastet. Sie hat Deutschlands Wesen als wohl historisch gewachsene Nation binnen zehn Jahren nachhaltig zerstört, die Identität dieses Landes verändert, entstellt, eine Unterwanderung der Gesellschaft regelrecht beschworen. Sie hat für eine neue Unsicherheit, gesellschaftliche Polarisierung, Radikalisierung, eine regelrechte Wiederholung der politischen Teilung Deutschlands gesorgt.