Im ersten Teil seines großen Tagebuchprojekts über ein „Abenteuerliches Herz“ dokumentiert der Publizist Heimo Schwilk eine Zeit des Umbruchs. Die 1980er Jahre bis zur Wiedervereinigung und die folgenden 1990er Jahre, in denen letztlich die Versuche scheiterten, der politischen Linken die kulturelle Hegemonie zu entringen.
Schwilks an Ernst Jünger geschulter Diaristenblick bot eine Hilfe zur Analyse auch und gerade unserer Zeit, die im Kontrast mit jener schon versunkenen Epoche keineswegs besser abschneidet. Auch wenn hohe Repräsentanten des Staates immer wieder das Mantra ins Spiel bringen, wir lebten in dem besten Deutschland, das es je gegeben habe, belehrt uns Schwilk eines Besseren.
Zwischen politischen Beobachtungen und biographischer Arbeit
Denn blickt man heute auf Deutschland, so läßt sich nicht verkennen, daß die Farbe dieses Landes nicht bunt ist, sondern grau. Wie Mehltau liegt auf Deutschland eine Schicht aus Moralismus, Gesinnungstüchtigkeit und überbordendem Dirigismus. Schwilks Tagebuch wird in dem nun erschienenen Band bis in die unmittelbare Gegenwart fortgeführt, so daß auch die jüngsten politischen Entwicklungen – Corona und Ukrainekrieg – darin ihren Niederschlag gefunden haben.
Schwilk scheut wie im vorigen Band nicht vor klaren politischen Urteilen zurück, auch wenn er der Politik keineswegs einen Primat einzuräumen bereit ist. Nicht das Politische definiere sein Menschsein, denn das Zoon politikon, das politische Tier, sei nur eine „Schwundform des Menschlichen“. Es gehe um existentielle Entscheidungen, vor die jeder einzelne gestellt ist, und so schildert Schwilk nicht nur das weite Feld des Politischen, sondern präsentiert dem Leser auch seine gespannten Familienverhältnisse, seine Träume – und öfter auch die Speisekarte, die bei diversen Treffen Gaumenfreuden spendete.
Für ein breites Publikum sind aber sicherlich die politischen Kommentare Schwilks von besonderem Reiz, auch wenn der Prozeß der Arbeit an seinen Biographien über Ernst Jünger, Hermann Hesse, Martin Luther und Rainer Maria Rilke immer wieder Anlässe gibt, auf Grundsätzliches hinzuweisen. Vor allem Ernst Jünger ist hervorzuheben, denn die Begegnung mit ihm hatte Schwilks Leben verändert – und zwar gar nicht so sehr wegen seiner dunklen Symbolik, seiner kunstvollen Prosa oder seines heroischen Realismus, sondern wegen seiner Haltung der Unbeugsamkeit, aber auch einer von Schmerz gezügelten sowie ins Geheimnis vernarrten Autorschaft.
Schwilk und das Kartell der Gesinnungsethiker
Der ehemalige Fallschirmjägeroffizier und spätere Kriegsreporter Schwilk fand bei Jünger etwas Widerständiges gegen die „eigentümlich deutsche Moralbeflissenheit“, die uns auch heute noch so sehr zu schaffen macht – wie eben auch in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015. Als Schwilk im November 2015 für sein publizistisches Lebenswerk mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis ausgezeichnet wird, nutzt er die Gelegenheit, die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel frontal anzugreifen: Sie kenne keine echte Verantwortung für Deutschland und das deutsche Volk, ergehe sich aber im Dreschen humanitärer Phrasen, die das „mediale Kartell der Gesinnungsethiker“ übrigens bis heute nicht in Zweifel zieht.
Die Ereignisse dieses Jahres, die uns bis heute zu schaffen machen, ließen Schwilk den legendären Essay „Anschwellender Bocksgesang“ von Botho Strauß „mit neuen, erschreckten Augen“ lesen. Und wir Zeitgenossen des Jahres 2024 verstehen es angesichts der über uns hinwegspülenden Propagandawellen wohl noch viel besser, was Strauß meinte, wenn er von dem „Regime der telekratischen Öffentlichkeit“ sprach, die er als „die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich de(n) umfassendste(n) Totalitarismus der Geschichte“ charakterisierte.
Martin Luther als Orientierungsfigur
Es erweist sich als ergiebig, daß Schwilk eigene Texte wie Reden in sein Buch einmontiert hat. So neben der Löwenthal-Preis-Dankesrede etwa eine Predigt anläßlich des Luther-Jubiläums 2017, in der Schwilk ausdrücklich danach fragt, wie wir heute mit Luthers Forderung nach Trennung der geistlichen und weltlichen Sphäre umzugehen haben. Denn der Geistliche dürfe sich nicht von der Obrigkeit vereinnahmen lassen, ihr aber auch nicht selber vorschreiben wollen, was sie zu tun habe.
Auch heute sei die „Politisierung der christlichen Botschaft mit Händen zu greifen“, wogegen aber festzuhalten bleibe: „Ein echter Lutheraner marschiert eben nicht an der Spitze des Fortschritts, sondern er versteht sich als Hüter der geoffenbarten Wahrheit (…)“, der wahre Christ hechele nicht dem öffentlichen Applaus hinterher, sondern sei für diese Welt ein Ärgernis. So plädierte Schwilk für eine Art Dialektik: Es geht einerseits um lutherische Freiheit von der Welt und andererseits um unbedingten Dienst an der Welt.
Ein Handorakel gegen den Opportunismus
Neben solchen tiefgründigen theologischen Reflexionen stehen Interventionen, die einen direkt politischen Impetus haben, auch da, wo es um Kulturelles und um Literatur geht. Schwilk unterschreibt Uwe Tellkamps Diktum von dem „enger gewordenen Meinungskorridor“, mit dem der Schriftsteller mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen stehe – was aber immer wieder von Leuten bestritten wird, die es besser wissen sollten.
Ein weiterer Test für diesen Befund ist Schwilks Tagebuch selbst – ein so dichtes und vielfältiges, persönliches wie zeitkritisches Werk müßte eigentlich in den Leitmedien des Landes besprochen und diskutiert werden. Aber hier herrscht Schweigen im Walde. Das aber ist kein Wunder. Denn Schwilk macht die üblichen Verbeugungen vor dem Zeitgeist nicht mit. 2020 notiert er, der Begriff „Spaltung“ werde inflationär und im negativen Sinne verwendet, obwohl doch jede Partei per se nur einen Teil repräsentiere.
Gern werde das Wort von Moralisten als Keule gegen angebliche Populisten eingesetzt – aber man wird auch dankbar manche Notate lesen, die uns über diese geistig-politische Misere erheben: „Der Zeitgeist“, so Schwilk, „ist ein Geist auf Zeit. Er kommt aus dem Hier und Heute und ist rasch Schnee von gestern.“ Sein Tagebuch taucht ein in diese Zeit; für uns ist es aber auch nichts Geringeres als ein Handorakel gegen den Opportunismus.