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Belletristik: Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“: Getarnte Aufmüpfigkeit

Belletristik: Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“: Getarnte Aufmüpfigkeit

Belletristik: Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“: Getarnte Aufmüpfigkeit

Auf dem Foto befindet sich Daniel Kehlmann während der Vorstellung seines neuesten Romans "Lichtspiel". (Themenbild/Symbolbild)
Auf dem Foto befindet sich Daniel Kehlmann während der Vorstellung seines neuesten Romans "Lichtspiel". (Themenbild/Symbolbild)
Bestsellerautor Daniel Kehlmann: Sein neuester Roman ist mehr als eine Hommage an einen vergessenen Regisseur. From: picture alliance/dpa | Hannes P. Albert
Belletristik
 

Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“: Getarnte Aufmüpfigkeit

Ein Künstler als Gefangener einer Epoche: Daniel Kehlmanns herrliche Hommage an den österreichischen Filmemacher G. W. Pabst eine Absage an die politische Verzweckung von Kunst. Didier Desmerveilles analysiert das neue Buch.
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DVD, Migration, Bestellen

Der Krieg ist da. Die Stadt versinkt im Chaos. Mittendrin: zwei Männer, zwei Getriebene, Besessene, schwer bepackt mit einer Tasche und einem Tornister. Ihr Inhalt? Rasch zusammengeraffte Habseligkeiten? Proviant für die Flucht? Schmuck oder Gold? All das nicht, sondern: Filmrollen! Die Szene stammt aus dem längsten Kapitel des Romans „Lichtspiel“, das seinen Autor Daniel Kehlmann, den vielleicht Besten seiner Zunft, auf dem vorläufigen Höhepunkt seines literarischen Vermögens zeigt.

Es heißt „Molander“ und handelt von den Umständen, unter denen G. W. Pabst dem in die entscheidende Phase getretenen Weltkrieg seinen größten Film, sein Meisterwerk, abzutrotzen wild entschlossen ist. Gedreht wurde „Der Fall Molander“ im besetzten Prag, in den Barrandov-Ateliers. Am Ende des Kapitels sieht man den Regisseur und seinen Assistenten Franz mit den in höchster Not und unter abenteuerlichen Umständen fertiggestellten Filmkopien in sieben Metalldosen durch die Stadt hetzen, verstört, übernächtigt, orientierungslos, weil Explosionen und der Rückzug der Besatzer Prag bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben, dem rettenden Bahnhof entgegen.

Die Liebe zum Film hat Daniel Kehlmann im Blut

Daniel Kehlmann:
Lichtspiel. Roman.
Rowohlt, Hamburg 2023, gebunden, 480 Seiten, 26 Euro. Jetzt im JF-Buchdienst bestellen.

Kehlmann läßt den Filmkünstler, der Tage, Nächte ohne Schlaf mit der fiebrigen Fertigstellung seiner Regiearbeit verbracht hat, seiner eigenen Kunst nicht mehr entkommen: Er flieht weniger durch die Stadt als durch einen Film, in dem er selbst immer noch Regie zu führen vermeint, obwohl er in Wahrheit doch nur mehr ein Statist der Weltgeschichte ist. Jede Richtungsänderung, jeden Blickwinkel betrachtet er, der nicht um sein Leben rennt, sondern um das seines Werks, immer noch mit dem Kennerblick des Filmemachers. Mag „Der Fall Molander“, die Verfilmung von Alfred Karraschs Roman „Die Sternengeige“, eine von Goebbels gewünschte Auftragsarbeit, auch nicht das Kunstwerk geworden sein, über das heute die ganze Welt staunt, Kehlmanns „Molander“-Kapitel in „Lichtspiel“ ist es auf jeden Fall.

Es war wohl nur eine Frage der Zeit, daß sich der Hölderlin-Preisträger dem Medium Film zuwenden würde. Schließlich war sein Vater Michael Kehlmann ein beachtlicher Regisseur, bekannt durch seine aufwendigen Joseph-Roth-Verfilmungen für den ORF. Ein bißchen von dem Medium, dem er so viel zu verdanken hat, dürfte der Vater dem Sohn mit in die Wiege gelegt haben, und mit „Nebenan“ (2021), einer Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Daniel Brühl, hat Kehlmann vor zwei Jahren ja auch selbst Kino gemacht.

Und nun also ein Buch, das „Kino“ heißt – der gebürtige Münchner, ein Liebhaber der deutschen Sprache, wählt das aus der Mode gekommene Wort „Lichtspiel“ – und sich einer Lichtgestalt des Films annimmt: des Regisseurs Georg Wilhelm Pabst (1885–1967). Ihm verdanken wir „Westfront 1918“ (1930), den bedeutendsten deutschen Antikriegsfilm der Ära vor 1945, ferner so berühmte Stummfilme wie „Die freudlose Gasse“ (1925) mit Greta Garbo und „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ (1929) mit Leni Riefenstahl sowie die aufwendige NS-Produktion „Paracelsus“ (1943).

Pabst im Exil

Der Autor läßt den „Film-Pabst“ in seinem Buch ein ernüchterndes Urteil über den „seltsamen“ Beruf des Regisseurs fällen: „Man war ein Künstler, aber man schuf nichts, sondern man dirigierte die, die etwas schufen, man arrangierte die Arbeit anderer, die bei Licht betrachtet mehr konnten als man selbst.“ Und er macht sich einen Jux daraus, Pabst in den USA, wohin er sich zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wie viele andere Künstler frühzeitig abgesetzt hat, einer wenig charmanten Verwechslung auszusetzen: Ständig bringt man ihn mit „Metropolis“ (1927) von Fritz Lang in Verbindung, der, anders als G. W. Pabst, während der NS-Zeit im Exil verblieb.

„Draußen“ nennt Kehlmann diesen ersten Teil, den Exil-Teil, seines Romans, aber dort „draußen“ kann sein Held nicht bleiben. Er macht dessen Rückkehr nach Europa zu der großen Tragödie im Leben des Meisters, läßt aber gleichzeitig wenig Zweifel daran, daß diese Rückkehr aus dessen Sicht alternativlos war. Er läßt ihn leiden an dumpfhirnigen Dilettanten, die ihm durch impertinente Ignoranz und bedrückende Borniertheit den Film „A Modern Hero“ (1934) aufschwatzen, den er nicht machen will, zu Bedingungen, die er nicht akzeptieren kann – eigentlich. Am Ende wird der Film Mist. So kann eine Kino-Legende nicht weitermachen.

Der Amerika-Teil ist ein kleiner, glamouröser Gesellschaftsroman, in dem man Figuren von F. Scott Fitzgerald wiederzusehen meint. Die Garbo und Pabsts verflossene Geliebte Louise Brooks, mit der er „Die Büchse der Pandora“ (1929) drehte, porträtiert Kehlmann in zwei hinreißenden Dialogszenen. Auf einer Pool-Party des Österreichers Fred Zinnemann in Los Angeles ist auch der andere große Exilant, Billy Wilder, zu Gast. Zinnemann, der in den USA als Western-Regisseur reüssierte und den Klassiker „Zwölf Uhr mittags“ (1952) schuf, sagt den steilen Satz: „Hollywood, das sind nicht die anderen, das sind jetzt wir! Siodmak, Preminger, Lubitsch, Joe May, ich.“

Ernüchternde Heimkehr

Unter die Partygäste hat sich indes auch ein umtriebiger NS-Agent gemischt, der Pabst im Visier hat und mit dem er es noch öfter zu tun bekommen wird. 1938, ein Angebot aus Frankreich hat ihn zurückgelockt, sieht man den Helden und seine Gattin Gertrude („Trude“) in den Kreisen der deutschsprachigen Exil-Boheme – Hertha Pauli, Carl Zuckmayer, Walter Mehring – in dem Bistro Bois de la bière. „Bist du irre?“ braust Zuckmayer auf, als Pabst ihm erzählt, er sei auf dem Weg zurück nach Österreich, um seine senile Mutter zu besuchen. Die vielen historischen Figuren, die G. W. und Trude Pabsts Weg säumen, machen deutlich: Dieser Roman ist nichts für mittelmäßig Gebildete.

„Draußen“ ist geistreich und amüsant und doch nur eine Ouvertüre für das Hauptstück, „Drinnen“, in dem es um Pabsts verhängnisvolle Rückkehr nach Tillmitsch in der Steiermark geht, obwohl Österreich gerade ans Deutsche Reich „angeschlossen“ wurde. Der weltberühmte Filmemacher sorgt sich um seine Mutter, will sie eigentlich nur sicher in einer schönen Pflegeanstalt untergebracht wissen und dann schnell wieder verduften in die Schweiz. Es wird eine ernüchternde Heimkehr: Jerzabek, der Verwalter des kleinen Schlößchens, das Pabst hier besitzt, entpuppt sich als opportunistischer Nazi-Mitläufer, der ausnutzt, daß er auf einmal Macht gewonnen hat über die Herrschaften, denen er eigentlich dienen sollte. Der Regisseur, seine Frau und Söhnlein Jakob bleiben „drinnen“ im Reich.

Mitten im NS-Wahnsinn

Der Reichspropagandaminister, den Kehlmann im Kapitel „Vater der Lüge“ gleichzeitig verspottet und fürchten lehrt, dessen Diktion er dabei so genau nachahmt, daß man den Gefürchteten leibhaftig vor sich sitzen zu sehen vermeint, weiß um Pabsts Potential. Er schwatzt ihm, in einer feinen Dublette zu dem, was im ersten Teil die akut unterbelichteten amerikanischen Produzenten fertigbrachten, das Drehbuch zu dem Volksbelustigungsstreifen „Komödianten“ (1941) auf, obwohl der Regie-Titan ja eigentlich – schon wieder – nicht will. Aber wer kann einem Dr. Goebbels schon widerstehen?

Der Autor zeigt seinen Protagonisten anschließend in freier Fabulierlaune als Regie-Assistenten bei Leni Riefenstahls legendärem „Tiefland“-Dreh, verarbeitet die authentische Episode um KZ-Häftlinge, die von der Hitler-Verehrerin als Statisten zwangsrekrutiert wurden, und karikiert sie als beratungsresistente Diva, die zweifelhaften Ruhm erlangte.

Der ständige Perspektivenwechsel

Von Kapitel zu Kapitel wechselt Kehlmann mit Vorliebe die Perspektive, erzählt, wie Pabsts altersverwirrte Mutter den Alltag im Sanatorium Abendruh nahe Wien erlebt, oder wie Trude Anschluß in einem literarischen Gesprächskreis sucht, dort aber nur auf törichten Regimekonformismus stößt, oder wie ihr Sohnemann sich in den Schlingen der NS-Propaganda verheddert, dubiose deutsche Tugenden entwickelt und schließlich als Kanonenfutter an der Front landet.

Für die Premiere des großen „Paracelsus“-Films wählt er die Sicht des prominenten britischen Kriegsgefangenen Rupert Wooster, bei dem der Schriftsteller P. G. Wodehouse Pate gestanden haben dürfte. Und schließlich dann „Molander“, Kehlmanns Crescendo zum virtuosen Höhepunkt des Romans, inhaltlich, sprachlich und spannungsmäßig.

Drei kürzere Kapitel umfaßt schließlich der Abschnitt „Danach“: Der Romancier schildert die Dreharbeiten zu dem Gebirgsdrama „Geheimnisvolle Tiefe“ (1949) nach einem Drehbuch von Gertrude Pabst, bei denen die Eheleute in eine schier ausweglose Situation geraten, verschafft der gealterten Louise Brooks noch einen letzten würdevollen Auftritt und serviert schließlich einen pointierten Epilog zu „Molander“.

Schön geschriebenes Drumherum

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Roman. Rowohlt, Hamburg 2005, gebunden, 480 Seiten, 26 Euro. Jetzt im JF-Buchdienst bestellen.

Der Autor des Welterfolgs „Die Vermessung der Welt“ (2005) hat seine ganz spezielle Methode gefunden, Romane zu verfassen, und es darin zu einsamer Meisterschaft gebracht. Das Buch „Ruhm“ (2009) könnte man als Prototypen, als Versuchsballon, auf diesem Wege bezeichnen: Kehlmann weiß, daß seine eigentliche Stärke die Novelle ist: runde Geschichten, die um ein zentrales Ereignis kreisen und sich zu einem pointierten Abschluß bringen lassen. Eher lose hat er sie in „Ruhm“ miteinander verbunden.

Leser und Kritiker reagierten zum Teil irritiert: Das sollte ein Roman sein? Jetzt schreibt er Romane, die sich aus einer ganzen Reihe von Novellen oder Kurzgeschichten zusammensetzen, von denen jede einzelne für sich stehen kann und als solche eine großartige literarische Miniatur darstellt. In der Summe ergeben sie einen großen Roman, weil sich alles um dieselbe Heldenfigur dreht. Man muß sich als Leser nur damit abfinden, daß kaum jemals eines der Kapitel nahtlos ans vorhergehende anschließt.

„Lichtspiel“ ist ein monumentaler Künstlerroman

So war es bei „Tyll“ (2017), so ist es bei „Lichtspiel“. Allerdings wirkt das neue Buch im Vergleich zum Vorgänger noch souveräner. Vielleicht liegt das am Thema, vielleicht auch an den kleinen, versteckten Gegenwartsbezügen, die in ihrer subtilen Ambivalenz, ihrer getarnten Aufmüpfigkeit schon fast etwas Subversives haben. Die Penetranz, mit der beim Grenzübertritt in das „Reich“ das Befolgen von Sprachregelungen eingefordert wird, Helmut Käutners Plädoyer für den unpolitischen Film, während überall draußen die Symbole der Systembejahung wehen, ein Satz wie „So was darfst du jetzt nicht mehr sagen“ – ein Schelm, wer Böses dabei und dabei nicht zuerst an die Vergangenheit denkt!

Keine Frage, „Lichtspiel“ ist ein großer, ein monumentaler Künstlerroman, der raffiniert Ausgedachtes kongenial mit mühsam Recherchiertem verbindet und dabei blendend unterhält. Es wäre überraschend, wenn man das Buch nicht irgendwann auch dort zu sehen bekäme, wo Lichtspiele üblicherweise laufen: für die Leinwand adaptiert im Kino.

JF 04/24

Bestsellerautor Daniel Kehlmann: Sein neuester Roman ist mehr als eine Hommage an einen vergessenen Regisseur. From: picture alliance/dpa | Hannes P. Albert
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