Erst in der Neuzeit setzte sich die lineare Zeitrechnung, primär vorbereitet durch christliche Einflüsse, als Ausdruck des modernen Fortschrittsdenkens endgültig durch. Diese Art der Chronologie wird überlagert von zyklischen Verläufen, sei es durch die Phasen des persönlichen Lebens, sei es durch die Perioden der Natur. Stets haben Menschen die Erfahrung gemacht, daß sich historische Muster in großen Rhythmen, nicht in Details, wiederholen. In den Geschichtswissenschaften starben solche Betrachtungsweisen daher nie aus.
Die Historiker William Strauss (1947–2007) und Neil Howe veröffentlichten 1996 ein in den USA vielbeachtets Werk: „The Fourth Turning“, das dort bald mit den Bestsellern von Fukuyama und Huntington auf eine Stufe gestellt wurde. In Deutschland hingegen nahm man die Publikation weniger zur Kenntnis. Ein untrüglicher Beleg dafür ist die spät erschienene Übersetzung. Die Verzögerung dürfte auch mit der überdimensionierten US-amerikanischen Perspektive zu tun haben.
Rezipiert man die Studie im Jahre 2022, so fällt gerade im Hinblick auf die unmittelbare Gegenwart die visionäre Perspektive auf. Im ersten Teil werden viele historische Zyklen, weiter solche des Lebens erörtert. Die Kreisläufe sind so lange wie ein durchschnittliches Menschenleben und zerfallen in vier Phasen, die im weiteren Sinn den Jahreszeiten entsprechen.
USA werden ein großes Tor der Geschichte durchschreiten
Besonders berücksichtigt wird das angloamerikanische Säkulum vom Spätmittelalter über Revolution und Bürgerkrieg bis in die aktuelle Zeit. Die Autoren machen in fünf Jahrhunderten sieben Wenden aus. 26 Generationen werden analysiert. Das Millennium als aktuelle Epoche umfaßt die Zeit von 1946 bis 2026. In diesem Zeitraum wirkten sehr verschiedene Alterskohorten auf der geschichtlichen Bühne: Die „Lost Generation“ umfaßte Personen, die noch am Ende des vorherigen Jahrhunderts geboren wurden. Sie hatten Mitte des Jahrhunderts ihren Zenit schon überschritten. Es geht weiter mit den „G.I.s“ (geboren zwischen 1901 und 1924), den Angehörigen der „Silent-Generation“ (Jahrgänge zwischen 1925 und 1942), schließlich den „Boomern“ (zwischen 1943 und 1963 geboren) und der „13. Generation“, deren Angehörige zwischen 1963 und 1981 zur Welt gekommen sind. Inzwischen sind sogar die zur Zeit der Publikation des Originals Geborenen längst erwachsen.
Mit offenkundigem Unbehagen wird die vierte Wende beschrieben, innerhalb derer wir uns befinden. Die Krisen beginnen kurz nach dem Anfang des neuen, damals noch bevorstehenden Jahrtausends, so die Prognose in den 1990er Jahren, in denen der Optimismus nach der Implosion des Ostblocks überwogen hatte. Politisch-gesellschaftliche Beben zerstören in dieser Periode mehr, als die Nationen im Anschluß wieder aufbauen können. Die Autoren schreiben, irgendwann, „bevor das Jahr 2025 erreicht ist, wird Amerika durch ein großes Tor der Geschichte schreiten, vergleichbar mit der Amerikanischen Revolution, dem Bürgerkrieg und Zweitem Weltkrieg“. Der gegenwärtige Betrachter dürfte keine Probleme haben, den Prophezeiungen vor einem Vierteljahrhundert entsprechende einschneidende Ereignisse in jüngster Zeit zuzuordnen.
Weniger ergiebig ist das Buch bezüglich einigermaßen präziser Lehren. Man verweist auf Möglichkeiten, daß sich Szenarien à la Spengler verwirklichen könnten. Sogar das Ende der eigenen Nation wird in Erwägung gezogen. Selbst lesenswerte Geschichtsdenker scheinen nicht über den vielzitierten Satz im biblischen Buch Kohelet hinauszukommen: „Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.“
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William Strauss, Neil Howe: The Fourth Turning: Was uns die Zyklen der Geschichte über die Zukunft unserer Gesellschaft lehren. Finanzbuch Verlag, München 2022, gebunden, 544 Seiten, 27 Euro
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