Mit 64 Jahren zählt Alain Finkielkraut zu den berühmtesten französischen Publizisten. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher, lehrt seit 25 Jahren an der renommierten Polytechnischen Hochschule in Paris und moderiert im Radio eine Kultursendung mit hoher Einschaltquote („Répliques“). Trotzdem ist er unglücklich.
Er leidet an der gegenwärtigen Lage in Frankreich, an den Auswirkungen der Einwanderung, an einer französischen Identität, die sich laufend selbst zerstört, an einem Bildungssystem, das die Vermittlung von Lerninhalten anscheinend ein für allemal durch „Kommunikation“ ersetzt hat. So steht es in seinem jüngst erschienenen Buch „L’identité malheureuse“ („Die unglückliche Identität“), das ihm bereits zahlreiche Kritiken eingetragen hat, das aber das Lebensgefühl der Franzosen perfekt zum Ausdruck bringt.
Worin besteht die Aussage dieses Buches? Daß Frankreich dabei sei, sich unter dem Einfluß einer massiven und unkontrollierten Einwanderung in eine „postnationale und multikulturelle Gesellschaft“ zu verwandeln. Daß die Einwanderer sich nicht nur der Integration verweigerten, sondern Frankreich offen verachteten. Daß ihr „Kommunitarismus“ zugleich einen neuen Antisemitismus und einen Relativismus nähre, der zum Nihilismus führe. Daß die französischstämmigen Franzosen sich mittlerweile als Fremde im eigenen Land fühlten: „Sie haben nicht etwa Angst vor den Anderen, sie haben Angst davor, selber zu den Anderen zu werden.“
Dank an eine untergehende Kultur
Finkielkraut hat selber einen „Migrationshintergrund“. Sein Vater verließ Polen in den 1930er Jahren wegen des dort grassierenden Antisemitismus und überlebte 1941 die Verschleppung nach Auschwitz. Erst 1950 wurde die Familie eingebürgert. Aber gerade weil er selber als Sohn eines Einwanderers aufwuchs, betont Finkielkraut immer wieder, wieviel er der französischen Kultur verdanke. Sein Werk wird von zwei großen Konstanten bestimmt: zum einen von einer Kritik der Moderne, die den Einfluß von Leo Strauss, Hannah Arendt, Heidegger, Charles Péguy und Milan Kundera verrät.
An die Errungenschaften des Fortschrittsdenkens glaubt Finkielkraut genausowenig wie an die „Menschheitsreligion“. Aufgrund seiner seit zwanzig Jahren anhaltenden Beschäftigung mit Moderne und Tradition ist er zu der Erkenntnis gelangt, daß letztere verschwindet, je mehr erstere um sich greift. Die Moderne begreift er als eine Epoche, in der unsere Zeitgenossen nicht nur den Sinn für das Eigene, sondern auch jede Verbindung zur Vergangenheit verloren haben.
EIn ganz reales Unheil
Die Verteidigung der klassischen Geisteswissenschaften, des kulturellen und literarischen Erbes und vor allem der „Schule der Republik“ bildet die zweite wesentliche Achse seines Denkens. Auf das schärfste verurteilt Finkielkraut den Untergang der Institution Schule, des hierarchischen Verhältnisses zwischen Schülern und Lehrern. Als jemand, der sich der jüdischen Gemeinschaft ungemein verbunden fühlt, nimmt er kein Blatt vor den Mund: Lehrer, so Finkielkraut, tragen heute einen „gelben Stern“. Und demnächst könnte das für die Kultur als solche gelten.
Ein Unheilsgedanke. Ein Unheil, das nur allzu real ist.