Kein anständiger Mensch kann Mitglied der römisch-katholischen Kirche sein. Die Ecclesia militans ist die älteste und größte Verbrecherorganisation der Welt. Mitleidlos hat die Inquisition Hussiten, Waldenser, Albigenser, Lutheraner, Zwinglianer und Kalvinisten verfolgt und verbrannt. Zwei Jahrhunderte lang wurden Tausende von unschuldigen Frauen (…) wegen Hexerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Zwei Jahrtausende lang hat die Mutterkirche einen glühenden Antisemitismus gepredigt.“
Das sind provozierend-bekannte Invektiven, die ersten Sätze in einer neuen, umfänglichen Abhandlung über die Kirchengeschichte. Blättert man in einem militant-antikirchlichen Opus in der Tradition von Kahl-Augstein-Deschner? In einer der zynischen Abhandlungen, die ihre schrillen Anklagen gegen das Christentum schleudern, ihm eine Blutspur in der Geschichte nachweisen wollen und dazu Kübel von Häme auskippen? Nein, ganz im Gegenteil. Mit dieser Todsünden-Liste beginnt zwar Arnold Angenendt, geweihter katholischer Priester und ehemaliger Professor in Münster, sein neues Buch („Toleranz und Gewalt“). Doch dann macht der 72jährige international renommierte Kirchenhistoriker auf 800 Seiten (allein davon 200 Seiten bibliographischer Apparat) die „Gegenbilanz“ auf – in fünf geschlossenen Hauptteilen, die auch separat gelesen werden können.
Angenendt orientiert sich in seiner großen historischen Studie an Ranke. Er will wissen, „wie es gewesen ist“. Dazu gehören genaue Analysen, Zahlen und Belege, dazu gehört die Auswertung einer Fülle von Spezialliteratur.
Beispiel Inquisition: Sie gilt als dunkelstes Mittelalter, der Horror pur. Hunderttausende oder gar Millionen sollen den Folterknechten, die im Namen Jesu quälten, zum Opfer gefallen sein. Angenendt hat die Quellen akribisch ausgewertet: Für Spanien kommt er in der „wilden“ Phase, die bis 1530 dauerte, auf 5.000 Opfer. Das ist zwar immer noch viel, denn jeder ermordete Mensch ist ein Opfer zuviel. Aber es beweist auch, daß in Europa keineswegs jahrhundertelang die Scheiterhaufen brannten.
Überraschend dann auch seine prozeßrechtliche Analyse und Einordnung der Inquisition, und auch hier kratzt er an den tradierten Klischees. Der Kirchenhistoriker weist nach, daß es dabei – so die Intention von Papst Innozenz III.- um Tatsachenherstellung ging, und das war durchaus ein säkularer Fortschritt. Denn so sollten archaische Praktiken wie Wasser- und Feuerproben abgeschafft werden. Die Inquisitio (die „Untersuchung“) war ein amtliches Verfahren, am Ende sollte eine Verurteilung nur bei vollem Beweis möglich sein. Die Anklage sollte durch ein Geständnis, durch übereinstimmende Zeugen oder durch evidente Umstände bestätigt oder widerlegt werden – ein gewaltiger Fortschritt in der Rechtsordnung des Mittelalters. Angenendts Fazit: „Dies ist die ursprünglich, zunächst rein juristische und eindeutig positiv zu beurteilende Seite der Inquisition.“
Neues Testament keine Quelle für Antisemitismus
Beispiel Antisemitismus: Der schlimmste Vorwurf, der gegen die Juden vorgebracht wurde, war der des Gottesmordes. Er machte aus dem Nebeneinander das feindliche Gegeneinander. Angenendt sammelt hier ganz objektiv die Belege – bis hin zu den polemischen Chrysostomos-Predigten, die bis heute eine Belastung sind. Der Erzbischof (gestorben 407 n. Chr.) bezeichnete einst die Juden als Verrückte, Gotteslästerer, Schweine. Angenendt wendet sich aber gegen die eindimensionale Auffassung, das Neue Testament als ursprüngliche Quelle des Antisemitismus zu betrachten. Immerhin läßt Lukas Jesus am Kreuz sagen: „Vater, vergib ihnen“, und Petrus spricht von der „Unwissenheit“ der Juden. Auch in der Spätantike galt für die Juden das Rechtskonstrukt der „erlaubten Religion“. Papst Gregor der Große (gestorben 604 n. Chr.) garantierte den Juden freie Religionsausübung und bürgerliche Gleichstellung. Papst Alexander II (gestorben 1073) dekretierte: Die Juden sind zu schützen und ihr Blut nicht zu vergießen. Später wurde diese Schutzpflicht sogar verbindliches Kirchenrecht. In der Folgezeit erließ über vier Jahrhunderte hin jeder Papst eine spezielle Schutzbulle. Angenendts Fazit ist, daß die Juden „nicht rechtlos waren“.
Das Schlimmste, was den Juden im Mittelalter passieren konnte, war die Zwangstaufe oder die Vertreibung (beides schlimm genug). Aber (staatlichen) Massenmord an den Juden gab es im Mittelalter nicht. Den vollbrachten erst die Nationalsozialisten.
Von Rolf Hochhuth bis Daniel Goldhagen wird die Haltung des Papstes Pius XII. zum Holocaust gegeißelt. Sein Schweigen habe die Hitlersche Judenvernichtung provoziert. Angenendt erinnert daran, daß der Heilige Vater keineswegs untätig war. So fanden etwa 3.000 Juden in seiner Sommerresidenz Unterschlupf. Sechzig lebten neun Monate lang an der Jesuiten-Universität Gregoriana. Und ein halbes Dutzend schlief im Keller des Päpstlichen Bibelinstituts.
Markiert das Buch eine Wende in der öffentlichen Debatte? Eine Wende zu mehr Gelassenheit und zu mehr Differenzierung und Abwägen bei historisch-religiösen Urteilen? Es gibt hoffnungsvolle Anzeichen. So diskutierten Jürgen Habermas und der damalige Kardinal und heutige Papst Joseph Ratzinger im Januar 2004 in der Katholischen Akademie in Bayern. Der Postmarxist der Kritischen Theorie räumte ein, daß der demokratische Verfassungsstaat auf „autochthone weltanschauliche oder religiöse (…) Überlieferungen angewiesen ist“. Viel Respekt vor der Religion also, das diagnostiziert auch Angenendt trocken.
Nach der Wende wurden sogar SED-Atheisten seltsam kleinlaut, wenn sie zugeben müssen, daß ihre rote Religion nur etwa hundert Jahre alt wurde, während die Sancta Ecclesia schon zweitausend Jahre überdauerte. Und haben wir nicht seit Jahren einen regelrechten Boom an spirituellen und religiösen Druckerzeugnissen, der offenbar eine Renaissance des Religiösen signalisiert?
Angenendts Buch repräsentiert eine gut lesbare, materialreiche Fundgrube und Argumentationshilfe, um die andere Seite des Christentums dazustellen, ohne die Kehrseite (wie Ketzertötung, Schwertmission und Kreuzzüge) zu verschweigen.
Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Aschendorff Verlag, Münster 2007, gebunden 797 Seiten, 24,80 Euro