BERLIN. Es ist halb zehn, als der Siegerflieger der Lufthansa, neuerdings auch bekannt als Fanhansa, über Thüringen schwebt und an Bord der Landeanflug vorbereitet wird. Die Spieler und ihre Begleiter haben die Nacht in der 747 hinter sich, in der ihnen ein Kräuterfilet mit Kartoffeln und Kürbis serviert worden ist. Einige haben die Zeit zum Schlafen genutzt. Nur Lukas Podolski soll die ganze Zeit aufgeregt herumgelaufen sein.
Die Berlin-Touristen Doris, Friederike und Jochen machen sich zu diesem Zeitpunkt in Berlin auf zur Fanmeile, wo die Spieler am Vormittag eintreffen sollen. Es ist sonnig, aber nicht heiß. Schönes Sommerwetter. Das Trio aus Heinsberg im Rheinland hat Pech. Es sind schon zu viele Fans vor Ort.
Der Siegerflieger im Tiefflug
Der Jumbo mit der DFB-Auswahl fliegt nicht direkt zum Flughafen, sondern dreht in niedriger Höhe eine Ehrenrunde über der Fanmeile. „Kraß, so wat hab ick noch nie jesehen“, berlinert Felix, ein junger Mann, der sich schon am Morgen auf die Straße des 17. Juni begeben hat. So tief fliegen Flugzeuge sonst nie über der Berliner Innenstadt. Der Siegerflieger setzt währenddessen in Tegel zur Landung an.
Kurz nach 10 Uhr: Das Flugzeug ist am Boden. Aus dem Cockpit heraus wird eine deutsche Fahne geschwenkt. Während die Mannschaft von den ersten Berlinern umjubelt das Flugzeug verläßt, schließt die Berliner Polizei in Tiergarten die Zugänge zur Fanmeile. „Leute, auf keinen Fall mehr zur Fanmeile fahren, da ist alles dicht“, verrät der Radiomoderator. Ortsunkundige spekulieren, wo die DFB-Mannschaft langfahren könnte.
Wenig später ist das Berliner Regierungsviertel im Ausnahmezustand. Hier wird der Umzug auf einem offenen Lastwagen die letzten Meter zurücklegen. Dank Twitter spricht sich schnell herum, daß die Mannschaft inzwischen mit einem Bus unterwegs in die Stadt ist. Doch immer öfter versagen die neuen Medien. Zu viele Teilnehmer sind in den Funkzellen in Berlin-Mitte eingebucht. Senden und Empfangen sind plötzlich so gut wie unmöglich.
Langweiliges Warten in der Menge
Geplant ist, daß der Wagen an der Ecke Reinhardtstraße/Luisenstraße vorbeikommt. Hunderte warten hier seit einer Stunde. Die DFB-Elf kommt langsamer durch als geplant. Am Schluß ist die deutsche Präzision also doch noch einmal beeinträchtigt. Und das, nachdem alles so am Schnürchen geklappt hat.
Die einen warten in der Sonne auf den Stufen des Rudolf-Virchow-Denkmals, die anderen im Schatten. Jene drei Berliner Studentinnen etwa, die auf einem Verteilerkasten der Telekom sitzen. Sie haben an diesem Tag ihre Lernphase, ihren Alltag unterbrochen. Wie so viele der Anwesenden, die aus allen Altersschichten stammen. Ein Handwerksmeister hat sich mit seinem Lehrling hierher begeben. Die beiden sind auf das Dach ihres Lieferwagens geklettert. Von den Balkonen am Straßenrand jubelt eine Kindergartengruppe, die heute einen Ausflug in das Büro eines Pappis machen durfte, um die Rückkehr der Fußballhelden zu feiern. Der Kindergärtner im Deutschlandtrikot schwenkt eine schwarz-rot-goldene Fahne.
So vergehen Minuten des Wartens. Das Gedränge wird immer dichter. Einige Mütter mit schwarz-rot-goldenen Kinderwagen fragen sich bereits, ob das eine so gute Idee war, diese Menschenansammlung auszusuchen. Miriam und Samantha, zwei Berliner Schülerinnen, die seit einer Woche Ferien haben, finden, daß es die Aufregung wert ist.
Ohrenbetäubender Lärm
Plötzlich kommt eine Frau von hinten und schiebt ein altes, gelbes Postfahrrad vor sich her. „Ich will vorbei, ich bin kein Fan“, ruft sie, als sie die empörten Blicke und Unmutsäußerungen der Umstehenden bemerkt. „Ich will ins Krankenhaus“, klagt sie und zeigt auf die nahegelegene Charité. Doch inzwischen ist sie so tief in der Menschenmenge gefangen, daß es kein Vor und kein Zurück gibt. Sie beginnt zu fluchen, wobei nicht ganz klar ist, ob sie damit die Fans oder ihre eigene Dummheit meint. Sie muß warten, auch wenn sie „kein Fan“ ist.
Es vergehen zehn weitere Minuten, bis plötzlich von vorne ein Schrei losbricht. „Sie kommen.“ Polizei und der Lastwagen wurden am Ende der Reinhardtstraße gesichtet. Langsam schiebt sich der schwarze Daimler durch die enge Gasse. Die Polizei macht den Weg frei.
Wer nicht mindestens 1,85 groß ist, sieht nichts. Alle Leute holen ihre Mobiltelefone und sonstigen Kameras raus und beginnen zu knipsen oder zu filmen. Ein Papstbesuch ist nichts dagegen. Immer näher schiebt sich der Wagen an die Luisenstraße. Die Fans schwenken Fahnen wie verrückt.
„Deutschland, Deutschland“-Rufe
Als der Wagen die Kreuzung erreicht hat, beginnt ein ohrenbetäubender Lärm. „Deutschland, Deutschland“-Rufe und „Welt-mei-ster“ wechseln einander ab. Vom Wagen herab grüßen Sami Khedira und Mesut Özil. Bastian Schweinsteiger ist in eine Deutschlandfahne gehüllt, als wolle er sie nie wieder hergeben.
Der Wagen dreht in Richtung Brandenburger Tor. Der Jubelsturm ebbt ab. Langsam löst sich die Menschenmenge auf. Geschäftsleute gehen in ihre Büros zurück, Touristen marschieren in Richtung Friedrichstraße. Alawi etwa, ein Deutschlandfan aus Tansania, der bereits ein Trikot mit vier Sternen trägt und Götzeseidank darauf zu stehen hat.
Einige hartgesottene Fans hingegen folgen dem Troß und versuchen doch noch, auf die gesperrte Fanmeile zu gelangen. Dort wird eine Stunde später die Mannschaft auf die Bühne treten und von ihrem Erfolg berichten. Mannschaftskapitän Philipp Lahm auf die Frage, was ihm durch den Kopf geht: „Davon habe ich schon als Kind geträumt und erst recht 1990, als Lothar Matthäus den Pokal in die Höhe gestemmt hat.“
Mit diesem Wunsch waren die Spieler nicht allein.