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Literaturkritik: Von Nietzsche zu TikTok

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Expressionistisches Gemälde mit einem nackten weiblichen Akt in einem unordentlichen Zimmer, ein Mann sitzt teilnahmslos am Rand – Darstellung innerer Leere und zwischenmenschlicher Entfremdung in grellen Farben und verzerrter Perspektive.
Expressionistisches Gemälde mit einem nackten weiblichen Akt in einem unordentlichen Zimmer, ein Mann sitzt teilnahmslos am Rand – Darstellung innerer Leere und zwischenmenschlicher Entfremdung in grellen Farben und verzerrter Perspektive.
„Liegender Akt im Zimmer“, George Grosz, 1915: Das expressive Chaos in der Malerei spiegelt die diagnostizierte Gesellschaft der gekränkten Egos. Foto: picture-alliance / akg-images | akg-images
Literaturkritik
 

Von Nietzsche zu TikTok

Der Philosoph Jürgen Große seziert die moralische Umwertung unserer Zeit mit der Präzision eines Diagnostikers – und ohne falschen Trost. Sein Buch „Die kalte Wut“ verbindet dafür Nietzsche mit gegenwärtiger Empörungs- und Opferkultur.
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Wer verstehen will, wie Opferkult, Gleichheitswahn und moralische Erpressung zur Herrschaftsideologie wurden, muß das Buch des Berliner Philosophen Jürgen Große lesen. „Die kalte Wut ist die Grundstimmung unserer Zeit“ – mit diesem Satz eröffnet er ein intellektuelles Erdbeben gegen die Selbstgerechtigkeit der Gegenwart. Was Nietzsche einst als Ressentiment beschrieb, wird bei Große zur zentralen Diagnose unserer Epoche: Wut, nicht aus Überzeugung, sondern aus gekränkter Schwäche, ist der Motor des öffentlichen Diskurses.

Gekränkte Schwäche wird zur Waffe. Wer sich heute als Opfer inszeniert, genießt moralische Immunität – in Medien, Wissenschaft, Politik. Diese kalte Wut, kalkuliert und strategisch, erscheint nicht laut, sondern trägt den Anschein höherer Moral. Ihr Ziel: die Delegitimierung alles Starken, Überlieferten, Autonomen. Großes Blick richtet sich scharf auf die politische Linke: Aus revolutionärer Tatkraft wurde eine Kultur des Moralisierens. Aus dem Anspruch auf Gerechtigkeit wurde ein Wettbewerb um Verwundbarkeit. Zitat: „Die neue Moral ist kein Ideal mehr, sondern ein Hebel zur Erniedrigung des Anderen.“ Wahrheit spielt keine Rolle mehr – entscheidend ist, wer sich am glaubwürdigsten gekränkt fühlt.

Ein besonderes Verdienst des Buches ist die Analyse des moralischen Sprachwandels. Tugenden wie Tapferkeit, Mäßigung oder Disziplin weichen Begriffen wie Betroffenheit, Sensibilität oder Sichtbarkeit. Was früher als persönliche Haltung galt, wird heute zur sozialen Forderung – wer sich am meisten verletzt zeigt, beansprucht die höchste Autorität. Der Autor zeigt mit präziser Beobachtung, wie sich daraus ein System entwickelt: Kränkbarkeit wird zur neuen Währung. Der Opferstatus ist mehr wert als Leistung, moralische Empörung ersetzt Argument. Die öffentliche Debatte wird zur Bühne einer rituellen Rechthaberei – immer auf der Suche nach der nächsten symbolischen Hinrichtung.

Die neue Tyrannei des Gefühls operiert mit Schuldzuweisungen

Besonders eindrucksvoll ist Großes Entlarvung der moralisch getarnten Machtmechanismen: Das Ressentiment tritt nicht mehr offen als Neid, Haß oder Mißgunst auf, sondern verbirgt sich hinter der Maske des Mitleids – jedoch nicht mit den Schwachen, sondern mit sich selbst. In dieser perfiden Inszenierung erscheint das Ressentiment nicht als destruktive Kraft, sondern als moralische Tugend, als Mitgefühl, als Sorge um Gerechtigkeit – und genau darin liegt seine gefährlichste Wirkung. Die neue Tyrannei des Gefühls operiert nicht mit Gewalt, sondern mit Schuldzuweisungen, mit moralischer Erpressung, mit der subtilen Drohung der sozialen Ächtung. Und die Öffentlichkeit – Medien, Institutionen, sogar Teile der Kirche – macht bereitwillig mit, weil sich niemand dem Vorwurf der Herzlosigkeit oder „fehlenden Sensibilität“ aussetzen will.

„Die kalte Wut“ von Jürgen Grosse jetzt im JF-Buchdienst bestellen.

Große zeigt eindrucksvoll, wie unsere Gesellschaft eine systematische Umwertung aller Werte betreibt – jedoch nicht im aufrichtigen Sinne einer kulturellen Selbstüberwindung, wie sie Nietzsche forderte, sondern als kollektiven Racheakt gegen das Bestehende, gegen das Überlegene, gegen jede Form von gewachsener Autorität. Was früher als Ausdruck von Wahrheit, Schönheit oder Charakter galt, wird nun unter den Generalverdacht des Machtmißbrauchs gestellt. Wo einst Leistung, Rang oder Tradition Orientierung gaben, genügt heute die richtige Pose: verletzlich, betroffen, moralisch entrüstet. Damit entlarvt Große die postmoderne Gesellschaft nicht als eine der Toleranz, sondern als eine der inszenierten Verletztheit – mit einem erschreckenden Hang zur moralischen Inquisition im Namen der Barmherzigkeit.

Keine Hoffnung, dafür Klarheit

Stilistisch ist Große brillant. Aphoristisch, zugespitzt, provokativ – jeder Satz will aufrütteln. Er schreibt nicht aus dem Elfenbeinturm, sondern mit kämpferischer Klarheit. Er denkt Philosophie nicht als System, sondern als Diagnose. Das Buch liefert keine versöhnlichen Lösungen – und will das auch nicht. Es diagnostiziert, ohne zu therapieren. Für manche mag das hart sein. Doch gerade die entschiedene Verweigerung jedes Trostes macht seine Analyse so kraftvoll.

Die kalte Wut, so zeigt er, ist kein Zufall, sondern das Produkt eines ideologischen Umbaus der Gesellschaft – der längst weit fortgeschritten ist. Wer Hoffnung sucht, findet sie nicht in diesem Buch. Wer Klarheit will, sehr wohl. Große erklärt, warum Gender, Klima und Migration nicht nur politische, sondern quasi-religiöse Debatten geworden sind – und warum Abweichung in diesen Feldern heute mit sozialer Exkommunikation bestraft wird.

Jürgen Großes Buch ist das Werk zur Stunde. Es seziert die neue Tyrannei der Moral mit philosophischer Präzision und literarischer Wucht. Wer verstehen will, warum wir von moralischen Empörungswellen regiert werden – und warum Argumente immer weniger zählen –, findet hier die schonungslose Diagnose. Der neue Totalitarismus trägt kein Gesicht – nur das Lächeln der Kränkung. Große reißt ihm die Maske vom Gesicht – Satz für Satz, Seite für Seite.

Aus der JF-Ausgabe 20/25.

„Liegender Akt im Zimmer“, George Grosz, 1915: Das expressive Chaos in der Malerei spiegelt die diagnostizierte Gesellschaft der gekränkten Egos. Foto: picture-alliance / akg-images | akg-images
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