Der Boulevard war begeistert. „Papst stellt die Kirche auf den Kopf“, brüllte es von den Titelseiten. Sollte heißen: Mit Franziskus ist die Revolution im Vatikan ausgebrochen. Wirklich? Ohne Zweifel bringt der Jesuit auf dem Stuhle Petri, der Pontifex vom anderen Ende der Welt, in seinem ersten Apostolischen Schreiben („Evangelii gaudium“, Freude am Evangelium) einen anderen Ton, eine energischere Sprache in die Debatte über das Erscheinungsbild der katholischen Weltkirche als der als „Mozart der Theologie“ gerühmte Benedikt XVI.
Und wer, angesteckt von den Strukturreform-Diskussionen des deutschen Gremienkatholizismus, den 180-Seiten-Text (zufällig ist er genauso lang wie der Koalitionsvertrag von CDU, CDU und SPD) auf Wünsche nach Veränderungen im Inneren der Gemeinschaft von mehr als 1,2 Milliarden Katholiken abklopft, wird natürlich fündig werden. Er fühlt sich durch die Passagen über eine stärkere Verantwortung der Laien, über mehr Räume und Gestaltungsmöglichkeiten für Frauen und nicht zuletzt durch die Warnungen vor einem ausufernden Klerikalismus und Zentralismus in seinem Reformdenken bestätigt, sieht sich auf Augenhöhe mit dem Papst.
„Mit der Kirchenreform geht es voran“, jubelte der Ratzinger-Kritiker Hans Küng, und das war dann auch der Tenor in Presse, Funk und Fernsehen. Die mediale Euphorie-Walze fuhr freilich über die Intention des Apostolischen Schreibens gnadenlos hinweg. Die Regierungserklärung aus dem Vatikan bejaht Reformen, aber alle Reformen haben einer „Kirche mit offenen Türen“ zu dienen, die davon beseelt ist, „alle zu erreichen“. Mehr als hundertmal kommt das Wort „Mission“ vor. Ohne Mission keine Kirche, das ist ein zentraler Satz der Magna Charta dieses Pontifikats. Die Kirche der Zukunft wird missionarisch sein, oder sie wird nicht mehr sein. Keineswegs ein revolutionärer Gedanke, der Papst erinnert lediglich an den Evangelisierungsauftrag, der der Kirche von ihrem Gründer erteilt worden ist, und er macht Ernst mit den Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Bürokratisch hochgerüstet, verwaltungstechnisch geradezu perfekt, finanziell gut aufgestellt
Mit einigem Recht bemerkt die Tagespost, das Sprachrohr eines konservativen Katholizismus: Daß das Schreiben (dennoch) radikal wirke, liege nicht nur am appellativen, leidenschaftlichen Ton seines Verfassers, der die Dramatik der Situation deutlich mache: „Es liegt vor allem daran, daß sich die Erfahrung von Kirche hierzulande bereits weit von eben jener glaubensfrohen, missionarischen Kirche entfernt hat, die Franziskus fordert.“ Bürokratisch hochgerüstet, verwaltungstechnisch geradezu perfekt, finanziell gut aufgestellt, reich an Gremien, aber arm an Glauben, so sehe die traurige Realität aus. Mit anderen Worten: Strukturen, die nicht im Dienst der Evangelisierung stehen, verfehlen ihren Zweck, sind verzichtbar.
Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer spricht es offen aus: Gerade für die hochorganisierte Kirche in Deutschland leiten sich aus dem Apostolischen Schreiben ernste Anfragen ab. Von „Liberalisierung“ der Kirche durch den Pontifex aus Argentinien war im Zusammenhang mit „Evangelii gaudium“ die Rede. Franziskus verlangt von den Gläubigen, aus ihrer Selbstgefälligkeit herauszutreten, lieber aktiv in der Welt zu wirken und auch Fehler zu riskieren, als ängstlich hinter verschlossenen Kirchentüren in trügerischer Sicherheit mit sich selber im reinen zu sein.
Aber es wäre ein gravierendes Mißverständnis, vom Pontifex eine Liberalität im europäisch-bürgerlichen Sinne zu erwarten. Er stellt trotz seiner Mahnungen zur Barmherzigkeit nichts zur Disposition, was den (dogmatischen) Kern des Katholischseins ausmacht. Abtreibung bleibt für ihn eine Todsünde; es sei nicht fortschrittlich, sich einzubilden, man könne Probleme lösen, indem man menschliches Leben vernichte.
„Revolution im Vatikan“
Das Priestertum, daran läßt Franziskus keinen Zweifel, bleibe allein Männern vorbehalten; Johannes Paul II. und Benedikt XVI. haben das nicht anders gesagt. Wenn es um Ehe, Familie und den Zusammenhalt der Gesellschaft gehe, beklage das Kirchenoberhaupt „ganz in der Sprache des Konservatismus“ den Zerfall von Bindungen, notierte irritiert die Süddeutsche Zeitung, die sonst keine Gelegenheit ausläßt, die „Revolution im Vatikan“ zu preisen. Überhaupt zeigen sich „Reformer“ enttäuscht, daß die Programmschrift an manchen Stellen im Ungefähren verharrt, ausgenommen die massive Kapitalismus- und Reichtumskritik. Die Eucharistie, schreibt der Papst, sei nicht die Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen, dies müsse auch pastorale Konsequenzen haben. An diesem Punkt schießen die Spekulationen ins Kraut: Will Franziskus damit andeuten, daß auch wiederverheirateten Geschiedenen der Zutritt zur Kommunion erlaubt wird?
Vorsicht! Von „neuen pastoralen Bemühungen“ in dieser vor allem in Deutschland heiß diskutierten Frage sprach auch der Präfekt der Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, der im Osservatore Romano, unter Hinweis auf die Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe, den Ausschluß der wiederverheirateten Geschiedenen von den Sakramenten bekräftigte. Ein Dissens zwischen dem obersten Hirten der Kirche und dem Glaubenswächter? Wohl kaum. Zum Erstaunen vieler hat Franziskus den als „Hardliner“ verschrieenen Präfekten Müller schon früh im Amt bestätigt. Wenn das kein Zeichen ist.
JF 50/13