Kurz nach Erscheinen des Sammelbandes „Westbindung“ (Propyläen, 1993) wurde einer der Herausgeber zum Gespräch mit einem Berater des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl geladen. Bemerkenswerterweise ging es nicht um inhaltliche Aspekte oder die politische Verortung der beteiligten Linken, Sozialdemokraten, Liberalen, Konservativen und undogmatischen Rechten, sondern nur um ein Thema: die Westbindung als solche, das heißt nicht aus ideologischer Erwägung, weil man Teil der „freien Welt“ sei, den Amerikanern zu Dank verpflichtet, sich an London und Paris ein Vorbild nehmen müsse, sondern die Westbindung als Aspekt Bonner Realpolitik, Folge der Einsicht, daß jede noch so zarte Infragestellung ins Unglück führe und das wiedervereinigte Deutschland sich rasch in einer ähnlichen Lage wiederfinde, „wie vor ’45“.
Es wird bei dieser Formel nie ganz klar, was genau gemeint ist: „wie ’14“?; „wie ’33“? oder „wie ’39“? Andererseits darf man die politische Klasse der alten Bundesrepublik nicht derart unterschätzen, daß man annimmt, sie habe den Kurs der europäischen und der Nato-Integration (nur) aus weltanschaulichen Motiven verfolgt. Offenbar gehörte zum Wissen der Mächtigen immer auch, daß man in einer potentiell feindlichen Umwelt lebte, daß vor allem die europäischen „Partner“ ein langes Gedächtnis haben, zu dessen Kernbestand die Sorge vor der deutschen Macht gehört, ein aus Vernunft und Unvernunft gemischter Vorbehalt, der auch, aber nicht nur mit tatsächlichen historischen Erfahrungen zu tun hat.
Politik der Dauerbeschwichtigung gegenüber Deutschlands Nachbarn
Die deutsche Daseinsberechtigung verlangte deshalb nicht nur eine Politik der Dauerbeschwichtigung gegenüber den Nachbarn (und insofern war die Neue Ostpolitik nur die Fortsetzung der Strategie Adenauers), unter Einschluß militärischer und diplomatischer Selbstverzwergung, sondern auch den Entwurf eines Geschichtsbildes, das in seiner finalen Form alles zwischen der Reichsgründung und dem Zusammenbruch des NS-Regimes in eine Abfolge von Aggressionsakten umdeutete, bei denen es nur einen Verantwortlichen gab.
Wenn deshalb heute jemand in einem Leitmedium den „Vansittartismus“ – also die auf den englischen Diplomaten Robert Gilbert Vansittart (1881–1957) zurückgehende rassistische britische Denkschule, die auf die vollständige Vernichtung Deutschlands setzte – als „von Hellsicht“ (Edo Reents) getragen bezeichnet, ist das längst keine Bizarrerie mehr, sondern die Konsequenz der geschilderten Entwicklung. Dasselbe gilt für die dogmatische Fixierung der deutschen Verantwortung für den Ersten wie den Zweiten Weltkrieg oder die kanonische Deutung der Nationalgeschichte unter dem Aspekt des „langen Wegs nach Westen“ (Heinrich August Winkler).
Schreckgespenst des „deutschen Nationalismus“
Allerdings kehren als Nebenfolge der Euro-Krise, der Weigerung Merkels, die Schulden zu vergemeinschaften und das eigene Zentralbankmodell aufzugeben, altbekannte Reflexe in Großbritannien, Frankreich, Italien und Polen wieder, wo jede Weigerung Berlins, den falschen Kurs fortzusetzen, eine „antideutsche Welle“ (Le Monde) auslöst oder gleich als Aufgang des „Vierten Reichs“ gedeutet wird. Wenn man vor allem in Paris vor der „Bismarckschen Politik“ (Arnaud Montebourg) und dem „deutschen Nationalismus“ warnt, dann verwundert auch nicht, daß es wieder um die Möglichkeit oder Gefahr einer drohenden „Isolierung“ (Helmut Schmidt), das heißt „Einkreisung“ beziehungsweise „Auskreisung“ Deutschlands durch die anderen Mitglieder der Union geht.
So oft seit dem Zusammenbruch des Ostblocks wiederholt wurde, daß wir „von Freunden umzingelt“ seien, tatsächlich kann jeder wissen, wie brüchig die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Ordnung war, daß zu ihren wichtigsten Konstruktionselementen die Hegemonie der USA gehörte, daß deren Wegfall fast automatisch zur Wiederkehr alter Rivalitäten in Europa führt, daß dessen Reorganisation nur von Deutschland ausgehen kann, aber Großbritannien wie Frankreich an ihrem Widerstand dagegen schon deshalb festhalten, weil sie eine Verletzung ihrer nationalen Eitelkeit nicht ertragen, und im Zweifel lieber auf anachronistische Handlungsmuster zurückgreifen.
„Für die Hegemonie zu klein, für das Gleichgewicht zu groß“
Wenn selbst ein so auf die Nachkriegszeit fixiertes Blatt wie Die Welt mutmaßt, es könne – angesichts der gescheiterten Versteigerung von Bundesanleihen – eine „Verschwörung“ (Günther Lachmann) gegen Deutschland geben, und die FAZ in bezug auf die denkbare Zuspitzung des Konflikts lapidar-besorgt anmerkt: „Das hatten wir schon einmal“ (Klaus-Dieter Frankenberger), dann wird es Zeit für eine Ernüchterung der innerdeutschen Diskussion über das, was das Ziel unserer Europapolitik sein kann – und was eben nicht. Bündig hat der Historiker und Autor Michael Stürmer festgestellt: „Die deutsche Frage ist wieder da, diesmal in der wirtschaftlichen und finanziellen Variante. Sie aber hat niemals den Deutschen allein gehört. Für die Hegemonie zu klein, für das Gleichgewicht zu groß – das gilt seit dem Dreißigjährigen Krieg und dem Wiener Kongreß, seit Bismarcks Reichsgründung und dem Friedensdiktat zu Versailles.“
Der Verweis Stürmers auf den Dreißigjährigen Krieg ist für das Verständnis dessen, was heute vorgeht, entscheidend. Denn seit dem Westfälischen Frieden von 1648 gab es zwischen den Mächten Europas eine Übereinkunft, die Mitte schwach zu halten. Jeder Versuch, das Zentrum des Kontinents zu reorganisieren, führte zu feindseligen Reaktionen. Vor allem Frankreich sah sich seit je in der Wächterrolle, oder weniger beschönigend: verpflichtet auf „Richelieus Testament“. Dessen Kerngedanke war der Zusammenhang von Frankreichs Größe und Deutschlands Impotenz. Entsprechende Vorstellungen sind in der französischen Führungsschicht nie ganz verschwunden.
Deshalb genügt es auch nicht, wenn Merkel Sarkozys Empfindlichkeit schont, man von einer „Konvergenz“ der Reformabsichten redet: Paris muß sich in das Unvermeidliche fügen und das heißt faktisch die Funktion der „indispensible nation“ – der „unverzichtbaren Nation“ – anerkennen, die es selbst nicht erfüllen kann und deshalb Deutschland zu überlassen hat. Das ist der rationale Kern aller Rede vom „deutschen Europa“.
Der Historiker Karlheinz Weißmann hat 1993 zusammen mit Rainer Zitelmann und Michael Großheim den Sammelband „Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland“ (Propyläen) herausgegeben.
JF 50/11