Es ist schon einige Monate her, daß die Romeikes aus Baden-Württemberg ihr Haus vermieteten, ihre Klaviersammlung verkauften und in die USA zogen. Aufs Titelbild der FAZ („Das fliehende Klassenzimmer“) schafften sie es erst im Januar. Denn nun ist dies amtlich: Ein Richter aus Memphis nahm den Antrag der Romeikes auf politisches Asyl an.
Die Eltern von fünf Kindern betrachten ihr Anliegen weniger als politisches denn als religiöses: Ihr Wunsch, die eigenen Kinder häuslich zu unterrichten, wird in Deutschland nicht akzeptiert. Die Familie gehört einer evangelikalen Freikirche an und moniert unter anderem, daß in Schulbüchern Vorstellungen transportiert werden, die ihrem christlichen Weltbild zuwiderliefen. Für ähnliches Aufsehen sorgte im vergangenen Herbst die neunköpfige Familie Dudek aus Hessen: Weil sie ihre Kinder (nachgewiesenerweise äußerst erfolgreich) zu Hause unterrichteten, wurden sie zu einer Geldstrafe verurteilt.
Kaum ein Land setzt die Schulpflicht so rigide durch wie Deutschland. Während es in Ländern wie USA und Dänemark keine Schulpflicht gibt, ist anderswo allein eine „Bildungspflicht“ vorgeschrieben. In Irland, Italien und Spanien hat die Möglichkeit einer häuslichen Unterrichtung Verfassungsrang, in Rußland wird Heimunterricht staatlicherseits unterstützt, in der Slowakei ist er neuerdings bis zur 6. Klasse erlaubt, und in Österreich gibt es eine naheliegende pragmatische Lösung: Die Hausschüler müssen sich einer staatlichen Prüfung am Ende des Schuljahres unterziehen. Bestehen sie nicht, müssen sie auf eine staatliche Schule wechseln.
Homeschooling wird in den einzelnen Ländern höchst unterschiedlich wahrgenommen. In Skandinavien ist es kaum verbreitet, in Frankreich soll es 20.000, in Großbritannien 160.000 Schüler geben, die in familiärer Umgebung unterrichtet werden. In den USA sind es mindestens 1,5 Millionen Kinder, der Anteil steigt von Jahr zu Jahr.
Hierzulande wird die Schulpflicht je nach Bundesland verschieden durchgesetzt. Als rigide gilt Bayern und seit einiger Zeit auch Baden-Württemberg, über Mecklenburg Vorpommern und Berlin kursieren je unterschiedliche Angaben, die von „äußerst moderat“ bis „streng“ rangieren. Sachsen-Anhalt gilt als nachsichtigstes Bundesland, und in Thüringen sollen bewußt schulferne Familien – bundesweit sollen es rund 500 sein – kaum zählbar sein.
Gegner und Befürworter des häuslichen Unterrichts stehen sich zumeist unversöhnlich gegenüber. Im Zweifelsfall kämpfen David und Goliath mit harten Bandagen: Die allgemeine Schulpflicht, eine im Kern deutsche Errungenschaft, sei erst unter Hitler als „Schulzwang“ – und später in DDR als unnachgiebiges „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ – durchgesetzt worden, argumentieren die Hausunterrichter und wähnen sich als weitere Gruppe von politisch Verfolgten.
Die Gegner warten damit auf, daß es ausgerechnet eine zweifelhafte Person wie der libysche Revolutionsführer Gaddafi gewesen sei, der fand: „Dieser Unterrichtstyp, der heute in der ganzen Welt vorherrscht, widerspricht der menschlichen Freiheit. Den Menschen zu zwingen, nach einem vorgefertigten Lehrplan zu lernen, ist ein diktatorischer Akt. Schulpflicht verbunden mit vorgefertigten Lehrstoffen läuft auf eine gewaltige Massenverdummung hinaus.“
Wasser auf die Mühlen der Hausunterrichtsfreunde lieferte hingegen der Bericht des UN-Sonderbeauftragten Vernor Muñoz, der bei seinem Deutschlandbesuch 2007 die Beschwerden der Heimunterrichter vortrug und die Regierung aufforderte, Möglichkeiten für häuslichen Unterricht einzurichten.
Die breite Front der Schulpflichtbefürworter stellt zwei Punkte zur Disposition: Zum einen wird die fachliche Kompetenz der Hauslehrer hinterfragt, zum anderen der Erwerb sogenannter sozialer Kompetenzen auf Seiten der Schüler. Ersteres zu entkräften, dürfte ein leichtes sein: Ebenso wie für nichtstaatliche Schulformen wie Waldorf- oder Montessori-Schulen staatliche Prüfungen vorgesehen sind, könnten – analog zu Österreich – fachliche Jahresprüfungen stattfinden. Der Vermutung eines FAZ-Kommentators, daß sich bei einer „Aufweichung“ der Schulpflicht vor allem bildungsferne Schichten um den Schulbesuch drücken würden, wäre damit leicht zu begegnen. Unter den Familien jedenfalls, die sich dem Netzwerk für freie Bildung angeschlossen haben, oder denen, die ihre Erfahrungen unter Netzadressen wie www.homeschooling.de oder www.hausunterricht.org zusammengetragen haben, finden sich mitnichten Bildungsrenitenzler.
Das größere Fragezeichen steht auf beiden Seiten hinter dem „sozialen Lernen“. Dem, und nicht einer mangelnden fachlichen Kompetenz der Lehrerschaft, gehört die Hauptsorge der Heimschuleltern. Sie – die in Deutschland mitnichten in Überzahl „fundamentalreligiös“ geprägt sind – halten die Welt der Klassenzimmer und Schulhöfe eben nicht für die „gesunde Normalität“, die sie ihren Kindern vorenthalten. Jan Edel, Autor mehrerer Bücher zu dem Thema, schreibt, daß es sich mit dem Argument, bei schulfernem Lernen sei das „Kindeswohl“ gefährdet, eher umgekehrt verhalte. Häufiger gefährde der Alltag in Klassenzimmer und Schulhof die Integrität des Kindes. Bei den etwa drei Millionen Menschen weltweit, die ihre Bildung bewußt frei vom Schulbesuch erwerben, ließen sich keinerlei empirische Anhaltspunkte für Mangel an Integrationsfähigkeit, Toleranz und Mündigkeit finden.
Weitere Infos im Internet: www.netzwerk-bildungsfreiheit.de