Der Brockhaus-Verlag hat die aktuelle 21. Auflage seines Lexikonklassikers zur letzten erklärt. Es ist das Eingeständnis, daß das lexikalische Referenzmedium unserer Zeit nicht mehr in Leder gebunden, sperrig und teuer, sondern mobil und gratis im Netz abrufbar ist. Es heißt Wikipedia. Bildungsbürger und Ästheten mögen die Nase rümpfen, ändern können sie daran nichts. Neben der schnellen und kostenlosen Verfügbarkeit fasziniert die Nutzer, daß sie an der Kathedrale des Wissens mitbauen und sich damit zur „Info-Elite“ und den „Arbeitsbienen der Aufklärung“ (Süddeutsche Zeitung) zählen dürfen.
Über die Wikipedia-Autoren weiß man indes wenig. Nach einer Erhebung der Universität Würzburg von 2005 sind 88 Prozent von ihnen Männer, darunter viele Studenten. Nur 27 Prozent leben in fester Partnerschaft, lediglich 15 Prozent sind verheiratet. Ein Grund für das soziale Defizit mag sein, daß die Autoren durchschnittlich zwei Stunden am Tag mit Wikipedia verbringen. International erstellen 2,5 Prozent der Nutzer die Hälfte der Beiträge. In Deutschland sind neun Prozent der Autoren für 90 Prozent der Artikel verantwortlich.
Doch können sozial defizitäre Autoren eine Gewähr für Objektivität sein? Wikipedia-Diskurse sind erwiesenermaßen alles andere als herrschaftsfrei, zumindest bei Themen von gesellschaftspolitischer Bedeutung. Kurz nachdem des Wandbild des jungen Malers Benjamin Jahn Zschocke in Chemnitz wegen vermeintlicher Rechtslastigkeit entfernt wurde, erfolgte die Löschung des Wikipedia-Eintrags zu seiner Person. Eine eiskalte Demonstration von Machtvollkommenheit, die über Exklusion und Inklusion entscheidet.
Die Wirkungen sind noch verheerender, wenn es um Begriffsdefinitionen geht. Seit August 2005 schreibt in der deutschsprachigen Wikipedia ein Autor unter dem Pseudonym „Schwarze Feder“ über soziologische Themen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit ist er präsent, um mißliebige Beiträge zu überwachen, zu bekämpfen, zu löschen. Er bezieht sich auf den linken französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002), in dessen Manifest „Rassismus der Intelligenz“ es heißt: „Alle Rassismen sind sich gleich. Der numerus clausus ist genauso eine protektionistische Maßnahme wie die Einwanderungsbeschränkungen, eine Reaktion auf die Überfüllung, die eine wahnhafte Vorstellung von der großen Zahl, der Überschwemmung durch die große Zahl, an die Wand malt.“
Bourdieu wollte sich auf „das Problem der biologischen und sozialen Grundlagen der Intelligenz“ gar nicht erst einlassen, sondern den „Klassenrassismus“ der Fragestellung bekämpfen. Der Gegner soll politisch-moralisch vernichtet anstatt argumentativ widerlegt werden.
Dazu hantiert „Schwarze Feder“ mit dem Vorwurf des Rassismus und Rechtsextremismus. Sobald es um Bezugsgrößen geht wie: Elite, Elitesoziologie, Bildungsarmut und -benachteiligung, Intelligenz, IQ, Chancengleichheit, Diskriminierung, Rassismus usw., setzt er durch ständige Präsenz und gute Vernetzung seine von der Gleichheitsideologie inspirierte Lesart durch.
Allerdings kann ein Autor für seine Beiträge persönliche Anerkennung nur auf sich ziehen, wenn sie mit dem Klarnamen verbunden werden. Seit einigen Monaten spiegelt daher ein „Andreas Kemper“ bei dem neuen Wissensportal Google Knol wortgetreu die Wikipedia-Beiträge von „Schwarze Feder“ wider und ist auch hier der mit Abstand aktivste deutschsprachige Autor. Bei Google-Knol gibt es abgestufte Zugriffsrechte. Kemper hat diese Besonderheit sofort durchschaut und die Rolle des Platzhirsches übernommen Als erster hat er eine Liste „Alle(r) neuverfaßten deutschsprachigen Knols“ und zahlreiche Begriffslisten erstellt und kann nun über den Verbleib und die Löschung der Einträge auf diesen Listen befinden.
Um seine Dominanz bei Wikipedia auszubauen, versucht er dort gegenwärtig, Gleichgesinnte zu organisieren und einen Verein zu gründen. „Schwarze Feder“ ist auch in Wikiversity, Anarchopedia und WorkingClassStudents aktiv. Hier hat er über sich selbst geschrieben: „Durchs Abi gerasselt. Meine Magisterarbeit in Soziologie habe ich über studierende Arbeiterkinder geschrieben, und meine Doktorarbeit schreibe ich zum Thema Klassismus.“
Im Münsteraner Unrast-Verlag wird seit zwei Jahren ein dünnes Buch Kempers über „Klassismus“ angekündigt, das nun im Juli 2009 erscheinen soll. Über den Verfasser erfährt man, daß er 1963 geboren wurde und als Soziologe in Münster lebt. Der Begriff „Klassismus“ meint ein System der „individuellen, institutionellen und kulturellen Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund des tatsächlichen, vermuteten oder zugeschriebenen sozial- oder bildungspolitischen Status“. Er „ergänzt und überschneidet (…) sich mit der Analyse von Rassismus, Sexismus und anderen Diskriminierungsformen“.
Dazu paßt, daß Kemper von 2003 bis etwa 2006 im „Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende“ gearbeitet hat, zu dessen Mitbegründern er gehört. Bei verschiedenen Gelegenheiten, so 2007 im Internetauftritt der WASG Münster oder bei Spiegel online Ende 2006, wird Kempers Behauptung einer Doktorarbeit wiederholt.
Rückfragen beim Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ergaben allerdings, daß ein Doktorand Andreas Kemper dort unbekannt ist. Der stellvertretende Institutsleiter Hanns Wienold teilte mit, daß „Herr Kemper vor drei oder vier Jahren“ bei ihm seine Magisterexamen im Fach Soziologie abgelegt habe. „Er hatte damals auch die Absicht geäußert zu promovieren.“ Ein Magister mit 42 Jahren! Man fragt sich, wovon Kemper seine Aktivitäten überhaupt finanziert, denn sie sind eine Vollzeitbeschäftigung. Ihr quantitatives Ausmaß und die Verbissenheit, mit der er andere Meinungen bekämpft, lassen auf eine Verhaltensstörung schließen.
Doch das Phänomen „Schwarze Feder“ erschöpft sich nicht im Pathologischen, denn Kempers Aussagen decken sich weitgehend mit denen seiner früheren Direktoren und befinden sich voll in der Hauptströmung der deutschen und westlichen Soziologie. Der erwähnte Hanns Wienold hat 2001 als Co-Autor ein Buch über „Gesellschaft bei Marx“ veröffentlicht. Darin dürfen die Studenten auf Seite 260 lesen: „Die Marxsche Theorie ist vor allem aufgrund der zentralen Stellung, die in ihr der menschlichen Arbeit zugewiesen wird, in spezifischer Weise humanistisch.“ Durch hegemoniale Wikipedia-Autoren könnten solche Erkenntnisse im Laufe der Zeit zum unwidersprochenen Allgemeinwissen werden. Es ist kein bildungsbürgerlicher und ästhetischer Dünkel, sich über diese Aussicht zu empören.
Foto: Profil des Wikipedia-Vielschreibers „Schwarze Feder“: Zu jeder Tages- und Nachtzeit präsent