Diktaturen mögen keine kritischen Beobachter, auch nicht außerhalb ihres unmittelbaren Machtbereiches. Dies sollte der 1949 aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nach Westdeutschland geflüchtete junge Student Karl Wilhelm Fricke, der seit 1952 als freier Journalist in West-Berlin für Zeitungen und Zeitschriften regelmäßig Artikel über Unrechtshandlungen in der SED-Diktatur verfaßte, schnell persönlich zu spüren bekommen. Im April 1955 wurde Fricke im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR in einer Wohnung in Berlin-Schöneberg von zwei inoffiziellen Mitarbeitern des MfS betäubt und anschließend in den Ostsektor der Stadt entführt. Dort verurteilte ein Gericht den unbequemen Berichterstatter wegen angeblicher „Boykott- und Kriegshetze“ zu vier Jahren Haft, die er in den Gefängnissen in Brandenburg-Görden und Bautzen zubringen mußte.
Wenn allerdings das MfS damit gerechnet hatte, auf diese Weise Fricke einschüchtern oder gar beugen zu können, so erwies sich diese Annahme als Fehleinschätzung. Vielmehr setzte er nach seiner Entlassung im April 1959 von Hamburg aus unbeirrt seine Aufklärungsarbeit fort. Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte wurde Fricke zu einem der führenden Köpfe auf dem Gebiet der DDR-Forschung in der alten Bundesrepublik.
Nun feierte der Autor zahlreicher Sachbücher, von denen die meisten längst zu Standardwerken geworden sind, am vergangenen Donnerstag seinen 80. Geburtstag. Diesen Anlaß nutzte die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, um an diesem Tag im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung zum Thema „Entführt – Menschenraub im Auftrag der Stasi“ dem anwesenden Fricke für seine bisherige Lebensleistung zu danken und zugleich die jüngsten Forschungsergebnisse zu diesem Kapitel der Teilungsjahre zu präsentieren.
So wies zunächst die Historikerin Susanne Muhle in einem Vortrag darauf hin, daß der Entführungsfall Fricke keineswegs einen Einzelfall darstellte. Insgesamt wurden bis zum Mauerbau im August 1961 rund 400 bis 500 Personen im Auftrag der SED aus den Westbezirken Berlins in den Osten verschleppt oder unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die DDR gelockt und dort verhaftet. Noch weit höher ist die Zahl der geplanten Entführungsversuche, deren Ausführung jedoch aus unterschiedlichen Gründen scheiterte. Die meisten dieser Fälle ereigneten sich in den frühen fünfziger Jahren.
Die Folgen der organisierten „Zuführung“ bzw. „Rückführung“ – so der originale MfS-Jargon – zu deren Ausführung oft Kriminelle eingesetzt wurden, waren für die Betroffenen häufig äußerst dramatisch. Mehr als zwanzig Entführte wurden zum Tode verurteilt und die Hinrichtungen entweder in der DDR oder in der Sowjetunion vollstreckt. Gegen die meisten anderen Opfer dieser menschenrechtswidrigen Praxis wurden vieljährige Haftstrafen verhängt. Dazu reichte im Regelfall bereits ein tatsächlicher oder lediglich vermuteter Kontakt zu westlichen Geheimdiensten aus. Generell bestand das Ziel der Entführungen darin, auf diesem Wege die Macht der SED sowie ihres Geheimdienstes zu demonstrieren. Zudem sollte ein Klima der gesellschaftlichen Verunsicherung unter all denjenigen geschaffen werden, die von West-Berlin aus der Herrschaft des SED-Regimes Widerstand entgegensetzten oder auch nur über seine Verbrechen aufklärten, so Muhle.
Zu diesem Personenkreis zählte zweifellos auch Fricke, der sich seit seiner Rückkehr in den Westen insbesondere mit vier Themengebieten beschäftigte: den sowjetischen Speziallagern in der SBZ, der politischen Justiz in der DDR, den dortigen Oppositionsbewegungen sowie den Strukturen des MfS. In diesen Bereichen verfaßte er eine Vielzahl von Arbeiten, so etwa „Politik und Justiz in der DDR“ (1979), „Die DDR-Staatssicherheit“ (1982) sowie „Opposition und Widerstand in der DDR“ (1984).
Alle diese Werke zeichneten sich durch eine solch hohe Qualität aus, daß die Inhalte auch nach dem gesellschaftlichen Umbruch in Mitteldeutschland von 1989/90 und der Öffnung der dortigen MfS-Archive weiterhin ihre Gültigkeit behielten, so der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, in seiner Laudatio auf den Jubilar. Besonders bemerkenswert sei dabei, daß Fricke trotz seines eigenen Schicksals die Verhältnisse in der kommunistischen Diktatur stets objektiv geschildert habe.
Weiterhin blieben für seine Arbeit Erfahrungen aus erster Hand besonders wichtig. So reiste Fricke in den siebziger Jahren mehrfach als sogenannter Reisekorrespondent des Deutschlandfunks in Köln, für den er seit 1970 arbeitete, in die DDR ein und nahm unter anderem als Beobachter an zwei SED-Parteitagen teil. An seinem scharfen Blick auf die kommunistische Diktatur änderte dies – im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen – freilich nichts. Das war in einer Zeit, in der „Menschenrechtsverletzungen fast nur noch in Amerika gesehen, die DDR dagegen äußerst schonend“ behandelt wurde, so Möller, alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Daß die Gefahr der Verharmlosung der kommunistischen Diktatur auch heute noch besteht, hob Fricke in seinen Dankesworten hervor. Längst seien „linksdoktrinäre Geschichtsrevisionisten am Werk“ und versuchten, „mit Hilfe von Lügen und Halbwahrheiten ihr altes Deutungsmonopol zurückzuerobern“. Schon aus diesen Gründen sei es auch in Zukunft wichtig, sich mit der DDR-Geschichte auseinanderzusetzen und gegen die Versuche der Verklärer Stellung zu beziehen. „Wachsam bleiben! Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen!“ heißt Frickes Credo.