Allzu leicht sollte man es sich nicht machen. In der Pariser Zeitschrift Nouvel Observateur finden sich lange Auszüge aus einem in Spanien erschienenen Buch von Joaquin Rodriguez Lopez, „Edition 2.0. Socrates en el hiperespacio“, in dem der große Sokrates allen Ernstes als Musterbeispiel eines begriffsstutzigen Zeitgenossen hingestellt wird, der die damals aufdämmernde Schriftkultur abgelehnt habe, weil sein „Gehirn“ noch nicht richtig auf diesen mehrdimensionalen „Hyperspace“ eingestellt gewesen sei.
Ganz ähnlich, so folgert nun Lopez, verhalte es sich in unseren Tagen mit den verbissenen Anhängern der Schriftkultur, deren „analoges, nicht digitales Gehirn“ ebenfalls Schwierigkeiten mit einem „Hyperspace“, nämlich mit der soeben heraufdämmernden „digitalen Bloggerkultur“ habe. Solche Reden lassen einen ernsthaft fragen, wie es mit dem Gehirn von J. R. Lopez bestellt sein mag.
Wenn es jemand unter den Geistesgrößen der Vergangenheit gegeben hat, der – wenn er heute lebte – die größten Sympathien für Internet und „Bloggerkultur“ aufbrächte, so wäre es Sokrates. Er würde sie als teilweise Wiederkehr der Sprechkultur und großes Korrektiv der Schriftkultur preisen, als bitter notwendige Rehabilitierung des „lebendigen Dialogs“, ohne den er sich menschliche Gemeinschaft und Kultur überhaupt nicht vorstellen konnte. Man lese die einschlägigen Stellen in dem wundersamen Platon-Dialog „Phaidros“ (256 ff.)! Sie klingen streckenweise beinahe, als seien sie von „Don Alphonso“ oder irgendeinem anderen der gegenwärtigen Großblogger verfaßt.
Sokrates haßte oder verachtete die Schrift keineswegs. Doch er sah von Anfang an glasklar: Bei weitem nicht alles, was sich mündlich leichthin sagen läßt, läßt sich mit gleicher Leichtigkeit aufschreiben. Die Schrift nimmt der Sprache viel von ihrer Nuancenhaltigkeit, sie dünnt sie aus und mindert ihre kommunikative Kraft.
Mindestens fünfzig Prozent des Bedeutungsgehalts einer sprachlichen Kommunikation, vermuten die Linguisten, verdanken sich der aktuellen „Sprechsituation“, liegen im spontanen Mitbedenken der unmittelbar waltenden sozialen Verhältnisse und ergeben sich nicht zuletzt aus den Klängen, Tonhöhen und gestengestützten Andeutungen der Sprechenden. Auch der größte Sprachmeister kann sie nicht ohne Verlust in Schrift übertragen.
Demgegenüber nehmen sich die Vorteile, welche die Schrift bietet, beinahe bescheiden aus, besonders seit es Telefone gibt und sofortige Sprechverbindungen in faktisch alle Teile der Welt fast selbstverständlich sind. Am ehesten kann man noch sagen, daß die Schrift der Sprache Halt und Dauer verleiht.
Da das Zeichenarsenal eines Schriftsatzes notwendig geringer ist als das einer gesprochenen Rede, wächst jedem einzelnen Schriftzeichen hohe Wichtigkeit zu. Was geschrieben steht, ist verbindlicher und archivhaltiger, das meint: konsequenzenreicher als jedes gesprochene Wort. Es kann weniger schnell zurückgenommen oder korrigiert werden als dieses, und folglich muß seine Form zwischen den Sprachteilnehmern fest verabredet und selber archiviert sowie strengstens eingehalten werden. Ob da oder dort ein Komma steht oder nicht, darf nie und nimmer dem Zufall überlassen werden.
Große Literaturschreiber wissen genau darum Bescheid und haben es immer geradezu tödlich ernst genommen. Karl Kraus etwa konnte um einer Kommasetzung willen ganze erbitterte Pressekriege eröffnen, und ein weiterer Sprachkönner, Bert Brecht, sprang dem ausdrücklich bei und richtete sich darauf ein. Es gibt darüber eine berühmte Anekdote, die zu den Lieblingsanekdoten von Pankraz gehört und die er gern und oft (vielleicht allzu oft) erzählt. Sie geht folgendermaßen:
Einmal bat der Schauspieler Fritz Kortner Brecht um Formulierungshilfe. Er hatte in einer wichtigen kontroversen Angelegenheit einen bitterbösen Brief an Karl Kraus geschrieben, und Brecht sollte ihn redigieren. Dieser nahm das Manuskript, es war gute fünf Seiten lang, und kürzte und kürzte. Zuletzt blieb nur noch ein einziger Satz ohne alle Nebensätze übrig, denn Brecht sagte: „Auf ein Komma lasse ich mich bei Karl Kraus nicht ein.“
Besser kann man übrigens das, was der gegenwärtigen „Bloggerkultur“ zur wirklichen Kultur fehlt, kaum markieren. Sie ist vielleicht dialognäher und temperamentvoller als die herrschende Schriftkultur, weniger von Behördendeutsch, Spezialjargons und politischen Tabus verunziert, aber gleichzeitig ist sie um ein vielfaches gröber, unpräziser und geschwätziger. Man denkt weniger nach und feilt weniger an seinen Formulierungen. Jeder Dummkopf und jeder Geschmackskrüppel dürfen sich in ihr wichtig machen. Das völlig Unwichtige überspült und zerstört das wirklich Belangvolle. Gefeiert wird der Sieg der Redundanz über die Information.
Und was dabei gänzlich ignoriert wird: Die „Bloggerkultur“ ist gar kein „Sieg“ über die Schriftkultur, auch wenn Herr Lopez sich das offenbar einbildet. Die meisten Blogger verwenden nach wie vor die herkömmlichen Schriftzeichen, nur daß sie bei ihnen elektronisch statt gedruckt einherkommen.
Wer aber von den Bloggern via Youtube persönlich mit Bild und direkt gesprochenem Wort anrückt, der nimmt einem regelrecht jede Lust, sich mit so etwas auf Dialog einzulassen. Da ist nichts Neuartiges, nur klischeehaft Hingelabertes, trübseligstes, vom Fernsehen abgegucktes Talkshow-Getue. Sokrates und auch der junge Phaidros würden ihr Haupt verhüllen.
Denn so spricht Sokrates am Ende ihres Dialogs: „Wenn die Reden einmal fixiert sind, so treiben sie sich aller Orten umher, gleicherweise bei den Verständigen wie nicht minder bei denen, für die sie gar nicht passen, weil sie von nichts einen Begriff oder auch nur eine Ahnung haben … Aber vom Gerechten und Ungerechten und vom Guten und Schlechten wachend und schlafend nichts wissen, das kann man doch nicht umhin, für vorwurfsvoll zu halten, auch nicht, wenn es die ganze Volksmenge loben würde.“