Es finden sich für Walter Benjamins Diktum, daß niemals ein Dokument der Kultur ist, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein, kaum bestechendere Belege als die Kunst der Kastraten im Machtbereich der römisch-katholischen Kirche und die Kastraten selbst.
Weil die Frau in der Versammlung schweigen solle, sollte sie in der Kirche auch nicht singen und, wäre es nach Papst Clemens IX. gegangen, auch nicht im Theater. Zwar nahm auch zu früheren Zeiten die Kraft päpstlicher Edikte mit der Entfernung ihrer Adressaten vom Kirchenstaat ab, doch selbst dort, wo an brauchbaren Sopran- und Altstimmen im Knabenalter kein Mangel war, setzte man hemmungslos genuß-, sex-, und profitsüchtig zum Schnitt an, um seinen Schnitt zu machen.
Insbesondere während des 17. und 18. Jahrhunderts wurden unzählige Jungen verstümmelt – einige Quellen sprechen für den Anfang des 18. Jahrhunderts von 3.000 bis 4.000 Fällen Jahr für Jahr –, viele starben oder trugen schwere gesundheitliche Schäden davon, wurden gesellschaftlich geächtet, in die Prostitution getrieben. Die wenigsten erhielten die ersehnte Ausbildung, die allerwenigsten machten Karriere, die Farinelli, Caffarelli, Appiani, Salimbeni, Porporino sind die Ausnahmen von der Regel.
Die römische Mezzosopranistin Cecilia Bartoli und das Kammerorchester Il Giardino Armonico unter der Leitung von Giovanni Antonini haben für ihr neues Projekt das Jahrhundert der Kastraten ausgeforscht, insbesondere die neapolitanische Sängerschule des Komponisten, Pädagogen, Impresario Nicola Porpora, und sind fündig geworden (Decca 478 1521). Ihr neues Album ist editorisch vorbildlich aufbereitet. Neben instruktivem Einführungstext, kleinem illustrierten Lexikon, Kommentaren zu den Arien, Verweisen ins Weltnetz (www.ceciliabartolionline.com) überrascht und verstört das kleine Buch mit Fotomontagen antiker Torsi, denen Haupt und Glieder abgeschlagen wurden zu der Zeit, da man der Antike die Sexualität austreiben wollte. Dafür tragen sie den Kopf der Bartoli. Und einer der Plastiken sitzt ein I-Punkt des Jubelschreis „Eviva il coltellino“ – „Es lebe das Messerchen!“ – genau an jener Stelle, wo ihr der Penis fehlt.
Bartolis Singen protestiert gegen die Opferung
Allein elf Ersteinspielungen finden sich auf der einen CD und auf einer zweiten als Bonus drei legendäre Arien, die zwar nicht der Schule Porporas zuzuordnen sind, aber als Zugstücke unverzichtbar, „Son qual nave“, die am besten bekannte Farinelli-Arie, komponiert von seinem Bruder Riccardo Broschi, „Sposa, non mi conosci“ von Giacomelli, bekannter in der Adaption von Vivaldi, und schließlich die berühmteste aller Kastratenarien, „Ombra mai fu“ aus „Serse“, die Händel für Caffarelli komponiert hat.
Historische Aufführungspraxis bedeutet für die Bartoli und die Musiker des Giardino Armonico mehr als nur die Rekonstruktion dessen, was da einmal wie und wem erklungen sein könnte. Eingestimmt durch die sorgfältig aufeinander abgestimmten Komponenten der corporate identity ihres Sacrificium-Unternehmens meint der Hörer, in ihrem Singen die Schnitte des Messerchens zu hören. Nicht Schöngesang bietet die Bartoli, kein Portamento, also das Hinübertragen des einen Tons zum anderen unter einem Haltebogen, und keine puccineske Stimmvolumenhuberei. Sie stellt die Schönheit einer Linie der Wahrhaftigkeit des Ausdrucks hintan, schleudert die Koloraturen heraus, oft unter hörbaren Aspirationen, verdeckt nicht die übermenschliche, unmenschliche Anstrengung, welche die Ausführung virtuoser Kunststückchen erfordert – wie der monströsen, bis zu 30 Takten langen Koloraturenketten in Francesco Araias Zornesarie für Farinelli „Cadrò, ma qual si mira“ –, wenn die ausführende Stimme glücklicherweise einem Körper zugehört, der nicht durch hormonellen Eingriff zur Gesangsmaschine manipuliert wurde.
Die Kunst der Bartoli macht nicht stupende Technik allein aus, sondern ihr intelligenter Gebrauch, um den exorbitanten Herausforderungen der Partien zu begegnen, Technik, die Ausdruck wird, ein Singen und ein Darstellen, die nicht nachvollziehen, sondern Leidenschaften und Zorn ausformen und Trauer über geopfertes Leben. Sie gibt den allgemeinen Affekten der eigentlich mittleren Kompositionen neue Richtung und neuen Sinn; es sind nicht mehr länger die Affekte der Helden der Opere Serie, es sind die Affekte der Kastraten selbst, die sie zur Darstellung bringt. Die Bartoli entreißt den Kastraten ihre Partien und holt sie denen zurück, deren Ausschluß aus Versammlung und von Gesang das Verstümmelungsgewerbe erst in Gang gebracht hatte, den Frauen.
Den weiten Weg zurück zu der Kunst der Kastraten sind viele gegangen, aber noch niemand hat sie so konsequent und klug vergegenwärtigt wie die Bartoli. Ihr Album „Sacrificium“ legt von Barbarei und Schönheit Zeugnis ab, und weil sie Barbarei nicht durch Schönheit entschuldigt, sondern jene in dieser aufhebt, weil ihr Singen gegen die Opferung protestiert und dennoch immer Singen bleibt, möchte der Hörer wohl dies eine Mal an die heilende Kraft der Musik glauben.
Cecilia Bartoli: Sacrificium, Deluxe Limited Edition mit 108 Seiten und Bonus-CD, Laufzeit zus. etwa 105 Minuten
Foto: Cecilia Bartoli: Ihr Album „Sacrificium“ legt von Barbarei und Schönheit Zeugnis ab, ohne Barbarei durch Schönheit zu entschuldigen