Sie heißen antikisierend „Gnossiennes“, nach dem „Kranichtanz“, der im Palast des Knossos – oder Gnossos – auf Kreta getanzt worden sein soll, oder „Gymnopédies“, sie heißen „Embryons desséchés“, „Ausgetrocknete Embryos“, sie sind in Birnenform geschrieben, haben skurrile Spielanweisungen zwischen den Notensystemen stehen, handeln von Krustentieren oder der Falle der Medusa (Ähnlichkeiten mit einem Baron namens Méduse wären rein zufällig): die kurzen, scheinbar anspruchslosen Stücke, mit denen Erik Satie (1866–1925) die Kunstwelt aufmischte und seine Hörerschaft in Anhänger und Verächter spaltete.
Seit Beethoven seien Satie und Webern die einzigen Komponisten gewesen, die die Vorstellung von der musikalischen Form revolutioniert haben, sagt John Cage, der freilich seinen Freiburger Verächtern mehr als Scharlatan denn als ernstzunehmender Komponist gilt. An Satie irritiert, mit welch einfachen Mitteln, mit welcher Nonchalance er allen gesicherten Regeln den Todesstoß versetzt, auch denen, die er eben noch selbst aufgestellt hat. Einzige Konstante seines Komponierens: Kunstherstellung und Kunstrezeption immer neu in Frage zu stellen. Noch irritierender aber ist, wie wenig von dem sowieso schmalen Gesamtwerk Saties eigentlich bekannt ist, sieht man von den „Gnossiennes“ und den „Gymnopédies“ ab, deren eine es einmal bis in die Werbung gebracht hat, wo sie gefällig den „Fels in der Brandung“ umspielt.
Die „Première Gymnopédie“ und auch sechs Gnossiennes – die siebente, bei Peters herausgegeben und 2001 von Jean-Yves Thibaudet eingespielt, fehlt – sind auf der einen von zwei CDs zu hören, mit denen Alexandre Tharaud einen möglichst vollständigen Überblick über das lebenslange Klavier- und Kammermusikschaffen Saties geben will, einer roten mit den Soli, einer weißen mit den Duos. (Harmonia Mundi HMC 902017.18) Sie erfüllen quasi die Funktion von „Promenaden“, leiten den Hörer von der einen zu der nächsten Pièce und bieten ihm einen Rückzugsraum vor all dem Unbekannten, den Tharaud & Co. mit geradezu distinguierter Haltung in „gnossischer Zeit“ durchmessen. Der Hörer soll ja auch gar nicht vor Lachen vom Hocker fallen, wenn er einen karikierten Ravel, Debussy oder Chopin zu hören vermeint. Tharauds Spiel und das der Seinen weist dezidiert darauf hin, daß Satie seine Witze durchaus nicht um ihrer selbst willen reißt. Ob er nun die Durchführungstechnik des klassischen Sonatenhauptsatzes mit einer zusammengestoppelten Musik aus scheinbar skizzenhaftem, lose arrangiertem Material kontert oder dramatische Zuspitzung mit dem Lob der Langeweile, ob er Einleitung und Schluß durch Überdehnung ad absurdum führt, thematische Arbeit durch automatische Niederschrift ersetzt und das Problem der Form mit der neu kreierten einer Birne ein für allemal löst: Immer reißt Satie Witze über die Dummheit in der Musik, und über die Dummen auch.
Die Duos mit dem Pianisten Éric Le Sage, der Violinistin Isabelle Faust, dem Trompeter David Guerrier, mit dem Tenor Jean Delescluse und der Chansonette Juliette entdecken uns nicht nur Saties Kammermusik, sondern auch die Freude derer, die ihre Entdeckungen spielend miteinander teilen, mit den Musizierpartnern, mit den Hörern und mit dem einsamen Vogel im Hof, der sich mit seinem Singen seinen Platz auf den Bändern erkämpfte.
Und wer war nun dieser Außenseiter, Zwangsneurotiker, Alkoholiker, eventuelle Träger des Asperger-Syndroms – die Rede geht von Satie, nicht von Tharaud – wirklich? Ein genialer Komponist oder ein genialer Scharlatan in Vorläuferschaft John Cages? Keins von beidem kann nach Hören des Albums ausgeschlossen werden. Man muß ihn spielen, um ihn zu begreifen.