Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki wird bald 89 und steht mehr denn je im Licht der Öffentlichkeit. Sein Amt als „Literaturpapst“ wird mittlerweile überglänzt von der Aura des Holocaust-Überlebenden und dadurch sakrosankt. Als Martin Walser ihn vor sieben Jahren im Roman „Tod eines Kritikers“ als unverschämt mächtige Kulturbetriebsnudel parodierte, zieh Reich-Ranickis Hausblatt, die FAZ, Walser des schlimmsten Vergehens, dessen ein Deutscher heutzutage fähig zu sein scheint: des Antisemitismus.
Karfreitag nun wurde die Verfilmung seiner Autobiographie „Mein Leben“ im Kultursender ARTE ausgestrahlt und am Mittwoch dieser Woche zur besten Sendezeit in der ARD wiederholt. Vorab erklärte die FAZ, mit diesem Film würde Reich-Ranicki „jetzt immer unbemerkt dabei“ und „ein Teil unserer Geschichte sein“. Reich-Ranicki, das transzendente Wesen! Was vollzieht sich da vor unseren Augen?
Bleiben wir zunächst beim „Literaturpapst“. Nein, keine Kritikerschelte! Kritiker gehören dazu, sie müssen sich allerdings bewußt sein, daß ihr Bereich das Sekundäre, die Sphäre zwischen „Konsum von Ästhetik und politisch-gesellschaftlicher Macht, zwischen Freizeit und Industrialisierung“ (George Steiner) und ihre Zeitform die des flüchtigen Jetzt ist. Ein Literaturpapst sollte sich die überreichte Tiara niemals aufsetzen, sie ist bloß aus Pappe. Reich-Ranicki jedoch nimmt sein Herrscher-Amt im Reich der Literatur wörtlich: „Wer dazugehört, entscheide ich.“ Anflüge von Größenwahn sind unübersehbar, aber auch das kühle Bewußtsein realer Macht: eine unheimliche Konstellation, die zur Frage nach Fällen von Machtmißbrauch führt.
Der Einwand, daß er in Wahrheit ein Dünnbrettbohrer und sein ästhetischer Maßstab der des sozialistischen Realismus sei, war früher immerhin noch möglich. Und in der Tat: Die Durchschlagskraft seiner apodiktischen Urteile war und ist an die Wirkung seiner Rhetorik und Persönlichkeit gebunden. Erschiene seine Person anfechtbar, wäre auch das Papstamt obsolet, wie er sehr wohl weiß.
Deshalb, als 1994 seine Mitarbeit beim polnischen Geheimdienst ruchbar wurde, beschränkte er sich nicht darauf, die persönlichen und Zeitumstände zu erklären, sondern er griff zur Faschismuskeule und stellte einen Zusammenhang her zwischen der Aufhellung der biographischen Leerstellen und den an Juden verübten Denunziationen in der NS-Zeit.
In Polen, von wo er 1958 nach Deutschland übersiedelte, ist der Blick auf ihn unbefangener. Der Journalist Gerhard Gnauck, Polen-Korrespondent der Welt, hat in seinem klugen, wohlinformierten Buch „Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre“ (soeben erschienen bei Klett-Cotta), das sich von Hagiographie und Enthüllungsfuror gleich weit entfernt hält, auf Ungenauigkeiten und Lücken in Reich-Ranickis Biographie und autobiographischen Darstellungen verwiesen. Die Literaturwissenschaftlerin Katarzyna Taborska sieht seinen Erfolg darin begründet, daß er seine im Ghetto und im Kommunismus erprobten autoritären Kommunikationsmuster „geschickt in die Welt der Demokratie eingeführt hat“. Der Literaturkritiker Ryszard Matuszewski, bis 1939 Nachbar der Familie Reich, fühlte sich von seiner „Arroganz“ und „Aggressivität“ im „Literarischen Quartett“ des ZDF (1988 bis 2002) abgestoßen und formulierte seine Kritik an Reich-Ranicki indirekt, dafür umso schärfer: „Ich kenne viele stille, schüchterne, feinfühlige, bescheidene Juden, die frei sind von jeglicher sogenannter jüdischer Chuzpe.“
Seine Stellung in der deutschen Öffentlichkeit verdankt sich nicht nur seiner Belesenheit, seinem Fleiß und Wortwitz, sondern auch speziellen politischen, historischen und psychologischen Konstellationen: 1945 war in Deutschland alles, auch das kulturelle und literarische Erbe, hinfällig. Reich-Ranicki erschien qua Herkunft und Lebensschicksal je länger, desto mehr die berufene Instanz zu sein, um das Literaturerbe zu sichten, zu lizenzieren und sie den geläuterten Deutschen zurückzuschenken.
Mitunter geht er dabei willkürlich und geschmäcklerisch vor. Auf eine Leserfrage nach Wilhelm Raabe, einem wichtigen Prosaautoren des 19. Jahrhunderts, polterte er: „Wann immer ich Raabe gelesen habe, hat mich seine Prosa gelangweilt. Sein wohl populärster Roman ist zugleich sein fragwürdigstes, wenn nicht widerlichstes Buch: der antisemitische Roman ‘Der Hungerpastor’.“ Zu so etwas wäre der sanfte Menschenfreund Wilhelm Raabe fähig gewesen?
Natürlich war er das nicht! Raabe zeigt vielmehr, wie gesellschaftliche Zurücksetzung jemand dahin bringt, einem Negativbild vollständig zu entsprechen. Der hochbegabte Moses Freudenstein macht, um die als Kind erlittenen Demütigungen zu kompensieren, unter dem Pseudonym Theophile Stein als Kritiker und Regierungsspitzel eine große Karriere und wird darüber zu einem abstoßenden Charakter. Der Roman ist ein früher Versuch, die Umstände des modernen Antisemitismus zu analysieren und zu historisieren.
Der Film „Mein Leben“ zeigt in klaren Umrissen, durch was für eine harte Schule Marcel Reich-Ranicki gegangen ist. Er wurde am 2. Juni 1920 in Polen als Sohn jüdischer Eltern geboren. Weil aus dem Kind etwas werden soll, wird es zum Onkel nach Deutschland, ins „Land der Kultur“, geschickt, wo Adolf Hitler bald an die Macht kommt. Isoliert, ausgewiesen, nach dem deutschen Einmarsch in Polen ins Warschauer Ghetto gesperrt, muß er mit ansehen, wie die Eltern deportiert werden – in den Tod. Auch der geliebte Bruder Alexander kommt um, er selbst überlebt gemeinsam mit seiner Frau Teofila im Untergrund. Der Film des Regisseurs Dror Zahavi ist sehenswert, wenn auch ein wenig brav. Auslassungen wie die der Geheimdienstzeit mindern nur die Dramatik der Lebensdarstellung.
Keine Frage, dieser Mann mußte, um zu überleben, mit harten Bandagen kämpfen. Es ist plausibel, daß ihm seine heutige Präzeptorenrolle „im Land der Kultur“ große Genugtuung bereitet und er sie eifersüchtig hütet. Eine andere Frage ist es, ob man sie unwidersprochen lassen muß. Dem Holocaust-Überlebenden Reich-Ranicki gebührt höchster Respekt. Die öffentliche Figur, zu der er geworden ist, muß man deswegen nicht lieben.
Foto: Matthias Schweighöfer als Marcel Reich-Ranicki in der Verfilmung von dessen Lebensgeschichte: Präzeptorenrolle im Land der Kultur