Mag er auch der „größte Anthropologe des 20. Jahrhunderts“ (Catherine Clément) sein, er selbst sieht sich als „Schüler und Zeuge“ jener schriftlosen Völker, deren Verschwinden er betrauert. Sein autobiographischer Forschungsbericht „Tristes Tropiques“ (Traurige Tropen, 1955) ist ein Requiem auf die untergehenden Kulturen. Unter Berufung auf Jean-Jacques Rousseau klagt er gegen die Nivellierung der westlichen Zivilisation, die jahrtausendealte Kulturen liquidiert. Claude Gustave Lévi-Strauss wurde am 28. November 1908 als Sohn eines Porträtmalers und Enkel eines Rabbiners in Brüssel geboren. Während des Ersten Weltkriegs zogen die Eltern mit ihm nach Paris, dort studierte er Jura und Philosophie. Ab 1932 als Gymnasiallehrer tätig, erhielt Lévi-Strauss 1935 einen Ruf als Professor für Soziologie an die Universität in Sao Paulo. Bis 1939 wird er dort seine Exkursionen nach Zentralbrasilien unternehmen, ethnologische Feldforschung für seine spätere Theoriebildung betreiben. 1939 treibt es ihn als freiwilliger Soldat nach Frankreich zurück, von wo ihm 1941 die Flucht in die USA gelingt. Erst 1948 kehrt er zurück. An der École Pratique des Hautes Études unterrichtet Lévi-Strauss vergleichende Religionswissenschaften der schriftlosen Völker, 1959 kam noch ein Lehrstuhl für Sozialanthropologie am Collège de France hinzu. Der 1982 aus dem Amt geschiedene Jahrhundertphilosoph lebt heute in Paris. Lévi-Strauss gilt als einer Begründer des Strukturalismus — auch wenn er selber diese Zuordnung ablehnt. Sein Forschen sucht in der Mythenanalyse die „Operationsgesetze des Geistes überhaupt“, in der Annahme, „daß der menschliche Geist, wenn er bis in seine Mythen hinein determiniert ist, es a fortiori überall sein muß“. Schließlich verfügen alle Völker über die gleiche Beschaffenheit des Gehirns. So denkt der menschliche Verstand zum Beispiel in den Strukturen des Gegensätzlichen: oben / unten, hell / dunkel, roh / gekocht. Dabei gibt es keine notwendige Korrelation zwischen mythischen Vorstellungen und den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen. In einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft etwa muß der Himmel nicht zwangsläufig männlich und die Erde nicht unbedingt weiblich besetzt sein. Die Strukturen sind also nicht auf soziale oder historische Bedingungen reduzierbar. Und Lévi-Strauss versucht — durch jene Strukturen bedingte — allgemeine „geistige Zwänge“ aufzuspüren, deren Code zu entschlüsseln. Es geht nicht darum, „wie die Menschen in Mythen denken, sondern wie sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken“. Um deren Axiome freizulegen, stellt Lévi-Strauss Material aus großer kultureller Entfernung nebeneinander: entdeckt beispielsweise die gemeinsame Bedeutung der Titelhelden aus Wagners „Tristan und Isolde“ und indianischer Opossumsmythen. Überhaupt registriert der Forscher eine „überraschende Affinität zwischen Musik und Mythen“. Er, der seinen „von Kindheit an auf den Altären des Gottes Richard Wagner geleisteten Dienst“ freimütig zugibt — er bekennt, daß „man in Wagner den unabweisbaren Vater der strukturalen Analyse der Mythen anerkennen muß (und auch der Märchen, siehe Die Meistersinger)“. Aber Wagner habe „diese Analyse zuerst in der Musik vorgenommen“. Deshalb zieht Lévi-Strauss „nur die logische Konsequenz aus der Entdeckung, daß die Struktur der Mythen sich mittels einer Partitur erfüllt“. Musik und Mythos bilden nämlich beide eine unübersetzbare Sprache. Und obwohl die Musik keine empirischen Vorbilder hat, löst sie bei den Menschen trotz aller Subjektivität ähnliche Vorstellungen aus. Wie der Mythos unterliegt sie einer kollektiven Struktur. Wenn Lévi-Strauss seine Mythenanalyse in Form einer Symphonie vornimmt, dann ist diese Analyse — wie er selbst einräumt — ihrerseits auch Mythologie. Das heißt, sie arbeitet durch deren Strukturen. Folglich überschreibt der Autor die Kapitel seiner vierbändigen „Mythologica“ (1964—1971) in Anlehnung an musikalische Begriffe: Das Vorwort heißt „Ouvertüre“, gefolgt von „Thema und Variationen“, dann folgt die „Sonate der guten Manieren“, die „Sinfonia breve“, die „Fuge der fünf Sinne“ usw. Mit der Ernennung Richard Wagner zum Vorläufer seines Denkens steht Lévi-Strauss übrigens nicht alleine da. Auch der französische Philosoph André Glucksmann interpretiert in „Les maitres penseurs“ (Die Meisterdenker, 1977) das Marxsche „Kapital“ durch Wagners „Ring des Nibelungen“. Dieser Wagnerianismus in der französischen Gegenwartsphilosophie hat bei Wagner-Gegnern für Verärgerung gesorgt. In jüngster Zeit hat Lévi-Strauss die Bedeutung Wagners für seine Forschung abgeschwächt und erklärt, daß der Komponist ihm eher „unbewußt als Beispiel gedient“ habe — was nach dem früheren Bekenntnis kaum glaubhaft klingt. In „La pensée sauvage“ (Das wilde Denken, 1962) zeigt Lévi-Strauss, daß die Denkstrukturen der Naturvölker sich von denen der westlichen Moderne nicht unterscheiden: daß also zu allen Zeiten und Orten „gut gedacht“ wurde. Selbst der finsterste Aberglaube ist in sich absolut (folge)richtig. Das „wilde Denken“ ist analytisch und synthetisch zugleich, ist das Denken des Bastlers, der mit bereits Vorhandenem arbeitet. Anders als beim neuzeitlichen Denken — das der Autor mit dem des Ingenieurs vergleicht — macht der Bastler „seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müßten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen“. Jedoch ist es nicht unbedingt „das Denken der Wilden, noch das einer primitiven oder archaischen Menschheit (…), sondern das Denken im wilden Zustand, das sich von dem zwecks Erreichung eines Ertrages kultivierten und domestizierten Denken unterscheidet“. Trotz dieses Unterschieds bewegen sich beide in gleichen Strukturen, bestehen nebeneinander und kreuzen sich sogar. Mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung: In der westlichen Zivilisation drohe das Ingenieurs-Denken das wilde auszurotten. „Doch ob man es bedauert oder sich freut, es gibt noch immer Zonen, in denen das wilde Denken, so wie die wilden Arten, relativ geschützt ist: das ist der Fall in der Kunst, der unsere Zivilisation den Status eines Naturparks zubilligt.“ Für den irreligiösen Lévi-Strauss haben sowohl Kunst wie Mythen die Funktion, auf das poetische Geheimnis des Lebens und des Seienden zu verweisen. Gewiß hat seine Zeugenschaft beim Verschwinden unzähliger Stammeskulturen mit dazu beigetragen, daß der Ethnologe von Melancholie und dem Wissen um die Nichtigkeit alles Seienden durchdrungen ist. Daß Lévi-Strauss von allen Großreligionen den Buddhismus vorzieht, liegt in dessen Sinn- und Jenseitsverweigerung begründet. Vielleicht ist auch dies auf einen unbewußten Einfluß Richard Wagners zurückzuführen, der sich in seiner späten „Parsifal“-Zeit buddhistischen Erlösungsphantasien hingab. Die allerdings teilt Lévi-Strauss nicht. Vor wenigen Monaten vom Magazin Cicero mit der Todesfrage konfrontiert, antwortete der 99jährige: „Ich gestehe, daß der Gedanke, ins Nichts überzugehen, mir zwar nicht behagt, mich aber auch nicht beunruhigt.“ Das ist schon ungeheuer viel. Jenseits der längst außer Mode gekommenen Strukturalismusdebatten enthält Claude Lévi-Strauss Werk reichlich Inspiration für aktuelle Diskussionen: die Zerstörung unzähliger Kulturen durch globale Vereinheitlichung, Herrschaft des technokratischen Denkens, die Beziehung zwischen Islam und Europa, das Problem von Forschung und Nihilismus usw. — genug, um eine völlig neue Rezeptionsgeschichte zu eröffnen. Anläßlich seines 100. Geburtstags ist im Suhrkamp-Verlag eine Sonderausgabe von Claude Lévi-Strauss „Traurige Tropen“ erschienen. Ausgestattet ist der von Eva Moldenhauer aus dem Französischen übersetzte Band mit 40 farbigen Gouachen von Mimmo Paladino und zahlreichen Abbildungen (gebunden, 541 Seiten, 38 Euro). Foto: Claude Lévi-Strauss: Requiem für die untergehenden Kulturen