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An der Oberfläche gekratzt

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Wer wie Hans-Ulrich Wehler eine „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ in fünf gewichtigen Bänden vorlegt, will weder einen Bericht aus der Forschungswerkstätte abliefern noch ein Volkslesebuch verfassen. Er schreibt für Bibliotheken und Archive. Das unterscheidet Wehlers Erzählung von der populären seines Vorgängers, Golo Manns „Deutscher Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“, die er mit keinem Wort erwähnt. Unter Historikern scheint das nicht ganz unüblich zu sein; denn auch Mann überging, als er seinen „Wallenstein“ herausbrachte, das innovative Werk seines unmittelbaren Vorgängers Hellmut Diwald mit beredtem Schweigen. Doch der Unterschied zwischen Mann und Wehler liegt nicht nur in Kürze, Struktur und Stil. Für Mann ist Gegenstand der Geschichte (ihr Subjekt) die Nation, für Wehler ist es die Gesellschaft; legt Mann den Schwerpunkt auf Politik und Kultur, so liegt er bei Wehler auf Wirtschaft und Sozialem, danach erst rücken Politik und Kultur in seinen Fokus. Diese Schwerpunktverlagerung des Stoffes überrascht insofern, als ja gerade Wirtschaft und Soziales den kontinuierlichen und am wenigsten stets neu zu analysierenden Trend im deutschen Geschichtsfluß ausmachen. Für permanenten Wirbel und Trendbrüche sorgen vielmehr Politik und Kultur, zumal im 20. Jahrhundert. Wehler bezeichnet es im Einklang mit seinem ideologischen Widerpart, dem noch heute überzeugten Kommunisten Eric Hobsbawm, als das „kurze“: Die Zeit vor 1914 gehöre ins 19., die nach 1990 ins 21. Jahrhundert. Doch was bei Hobsbawm verständlich ist, ergibt bei Wehler wenig Sinn. Der vom ökonomischen Liberalismus geprägte Aufstieg Deutschlands zum führenden Industrieland in Europa (und Rivalen Englands und der USA) endete nicht 1914 oder nach 1918; er kam wie im gesamten Westen mit der Weltwirtschaftskrise von 1931/32 zum Stehen. Und das Zeitalter der Globalisierung und weltkapitalistischen Comebacks begann nicht 1990 mit der Hightech-Revolution, sondern bereits in den 1970er Jahren mit der Liberalisierung der Weltfinanzmärkte durch den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und dem ersten Ölschock. Nicht nur in der Periodenabgrenzung zeigt Wehler, daß sein Verständnis von Wirtschaft, Sozialem sowie den Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftspolitik ein sehr vordergründiges ist; er bewertet fast durchgängig die Entwicklung in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten seit ihrer Gründung 1949 ex post: mit den Augen und Kriterien des Zeitgeistes von heute. Die DDR ist nichts weiter als eine „Satrapie“ der Sowjetunion, bar aller Eigenentwicklung und kulturellen Autonomie. Erhards Wirtschaftwunder verdankt sich der Wiedereinführung „neoliberaler“ Konzepte ins Wirtschaftsleben. Der wichtige Unterschied zwischen Erhards staatstragendem „Ordo“-Liberalismus und der heutigen Markt-Vergottung geht verloren; die Namen von Erhards Vordenkern und Impulsgebern (Walter Eucken oder Alfred Müller-Armack) werden verschwiegen. Konrad Adenauer, der 1957 die dynamische Altersrente, auch in Wehlers Augen eine sozialpolitische Großtat, gegen Erhard durchsetzte, setzte den Plan eines Kölner Privatdozenten und Verbandsfunktionärs Wilfrid Schreiber um. Es waren die Pläne des bedeutenden Sozialforschers Gerhard Mackenroth und Oswald v. Nell-Breunings, des Doyens der katholischen Soziallehre, die Adenauer durch seinen Sohn Paul kannte. Schreiber propagierte sie nur. Fünfzig Jahre nach der Großtat sieht Wehler Staat und Demokratie in Gefahr, weil der Sozialstaat ausgeufert sei. Er verkennt wie viele Kurzschluß-Ökonomen den nachfrage- und konjunkturstabilisierenden Charakter einer hohen und konstanten Sozialabgabenquote am Bruttoinlandsprodukt; in Skandinaviens Boom-Ländern liegt sie seit langem über fünfzig Prozent. Daß die heutige Krise des vereinigten Deutschlands etwas mit der Einführung des Euro zu tun haben könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Das Stichwort fehlt im Sachregister. Und der Blick ins Personenregister macht deutlich, daß unser Autor nicht einen der die Wirtschafts- und Sozialpolitik des „kurzen“ Jahrhunderts prägenden Ökonomen und Nobelpreisträger kennt oder auswertet: weder Keynes noch Beveridge, Friedman, Samuelson oder Myrdal. Lediglich Schumpeter kommt mit zwei belanglosen Äußerungen zu Wort. Nur: Ohne diese Autoren und ihren Einfluß läßt sich das Wirtschafts- und Sozialgeschehen nach 1949 nicht beurteilen, weder in Deutschland noch der westlichen Welt. Wehlers wissenschaftliches Credo ist der Kompromiß. Er distanziert sich im Kollegenkreis von allzu Neuem oder Eigenwilligem (Karl Dietrich Bracher und natürlich Ernst Nolte). Und er sympathisiert mit Fritz Fischers (weitgehend widerlegter) These vom „Griff nach der Weltmacht“ der deutschen Eliten vor 1914; dieser Wahn habe Weimar überlebt und sei von Hitler übernommen worden. Wehlers Motiv liegt auf der Hand: An Deutschlands Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und seinen Verbrechen sowie an der Verantwortlichkeit der Täter darf nicht gerüttelt werden. Der Historiker wird zum Moralisten. Wehler bekennt sich zu Theodor Mommsens „Pflicht des Historikers zur politischen Pädagogik“. Doch diese Pädagogik muß glaubwürdig sein, die Faktenlage stimmen. Geht es um Schuld und Sühne muß der Anteil aller Beteiligten am schlimmen Ergebnis sorgsam geprüft und gegeneinander abgewogen werden. Gerade an letzterem kommen bei Wehlers Urteilen zur jüngeren deutschen Geschichte Zweifel auf. Golo Mann hat bei seiner Analyse der deutschen Kriegsschuld nichts beschönigt und nichts verschwiegen. Aber — und darin sah er den volkspädagogischen Auftrag des Historikers: Die Begegnung mit der Vergangenheit muß Freude bereiten — durch Schönheit der Sprache, bohrende und mutige Analyse, die Wiederbegegnung mit den Dramatis personae der Geschichte: ihren Helden wie Märtyrern. An dieser Lebendigkeit läßt es der Autor fehlen. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR 1949—1990. Verlag C.H. Beck, München 2008, gebunden, XVIII und 529 Seiten, 34,90 Euro

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