Wer den ideologischen Gebrauchswert sowie das Konfliktpotential von nationalen Geschichtsmythen zum Gegenstand wählt, kann hierzulande mit Beifall rechnen. Anders stehen die Dinge überall dort, wo nationale Selbstbilder unbeschädigt geblieben sind. Im Jahre 1999 wanderte Jan Matejkos monumentales Historiengemälde der „Schlacht bei Grunwald“ als Leihgabe von Warschau nach Wilna, und anno 2000 trafen sich der litauische Präsident Vadas Adamkus und sein polnischer Kollege Aleksander Kwasniewski auf geschichtsträchtigem Boden bei Tannenberg, um gemeinsam des Sieges des polnisch-litauischen Heeres über die Ritter des Deutschen Ordens 1410 zu gedenken. Während im historischen Gedächtnis der Deutschen der einst Emotionen weckende Name Tannenberg getilgt ist, stehen Grunwald (polnisch) und Zalgiris (litauisch) für die ungebrochene Mythenpflege der östlichen EU-Nachbarn. Litauische Politiker melden, wie Kommunisten vor 1989, territoriale Ansprüche auf Nordostpreußen an, während Putin die Feiern zum 750jährigen Gründungsjubiläum auf den 4. Juli 2005, den Jahrestag der Umbenennung Königsbergs „nach dem stalinistischen Mörder Kalinin“, ansetzte. Andreas Kossert, tätig am „Deutschen Historischen Institut“ in Warschau, bewegt sich angesichts derlei unbequemer Fakten in einem Widerspruch, wenn er in seinem Ostpreußen-Buch für eine „Wiederentdeckung“ der alten Geschichtslandschaft plädiert: „Erst 1989 war endlich der ideologiefreie Blick auf die gesamte Geschichte möglich.“ Wirklich? Die Geschichte Ostpreußens begann in deutschen Schulbüchern einst mit den Kreuzrittern des Deutschen Ordens, die Herzog Konrad von Masowien 1226 gegen die heidnischen Pruzzen („Prußen“) ins Kulmer Land rief. Zu Recht setzt Kossert hier mit seinem Entmythologisierungsprogamm ein: Der von Treitschke in einem Aufsatz 1862 erstmals proklamierten deutschen Geschichtsmission stand der von Adam Mickiewicz („der polnische Nationalbarde“) ursprünglich auf die zaristische Unterdrückung Polens gemünzte Mythos von den blutigen Kreuzrittern sowie der 1861 erstmals von Karol Szajnocha beschworene „Drang nach Osten“, Grundmotiv der historischen Romane von Henryk Sienkiewicz und anderen, entgegen. Kreuzritterromane und -filme erfreuten sich nach 1945, als es um die Rechtfertigung der „Rückkehr“ in die „wiedergewonnenen“ Gebiete ging, großer Beliebtheit. „Das ursprünglich von polnischen Nationalisten des rechten Spektrums entwickelte Schlagwort vom ‚Drang nach Osten‘ fand Eingang in die marxistische Geschichtsschreibung.“ Gegen die Entstaubung nationaler Geschichtsbilder ist nichts einzuwenden. Die Zweifel gelten der These vom „multikulturellen“ und „multiethnischen“ Charakter der alten Geschichtsregion. Es geht nicht um eine „nationale“ Gegenthese, sondern um Kritik der modischen, aber schiefen Begrifflichkeit. An den historischen Wechselfällen der Lande zwischen Weichsel und Memel, an den konfessionellen Trennungslinien und sprachlichen Überschneidungen von Deutschen, polnischstämmigen Masuren und Litauern, ließe sich die Komplexität von Geschichte demonstrieren, die einfachen – nicht nur nationalistischen – Interpretationsmustern entgegensteht. Nur taugen zur Definition für vormoderne Widersprüchlichkeit nicht die zur Überdeckung der religiösen und ethnischen Gräben in der „multikulturellen“ Gegenwart etablierten Begriffe. Nicht zufällig führte die von Hochmeister, sodann Herzog, Albrecht von Hohenzollern 1525 eingeführte Reformation zu einem ersten Aufschwung der Nationalsprachen. Die von Kossert aufgezählten Glaubensflüchtlinge: Mennoniten, Hugenotten, Salzburger Lutheraner und russische Altgläubige lebten in einer Agrargesellschaft unter Landesherrn, die Toleranz aus Staatsräson übten. Der Autor scheint auch nicht zu sehen, daß Friedrich Wilhelm IV. („Preußens romantischer Herrscher“) sich als antimoderner, christlich-konservativer Monarch gegen die von einer aufgeklärt-liberalen Bürokratie betriebene antikatholische Politik wandte. Die von der Erweckungsbewegung erfaßten Litauer und Masuren waren unter Anleitung ihrer Prediger – „Laienpriester“ wird man unter Protestanten vergeblich suchen – treue Untertanen ihres preußischen Königs. Die heutige „multikulturelle“ Gesellschaft hingegen ist gekennzeichnet von babylonischer Sprachverwirrung, ethnisch-religiöser Zerklüftung und ideologisch dürftigen Integrationskonzepten. Gegen die „Multikultur-These“ spricht schlicht, daß hinter dem „Mythos“ Ostpreußen unabweisbar die deutsche Geschichte hervortritt. Zu den ansprechenden Passagen des Buches gehören die Ausführungen über Simon Dach („Ännchen von Tharau“) und den Königsberger Dichterkreis, der zur großen Tradition des protestantischen Kirchenlieds beitrug, über die „Repeuplierungs“-politik unter Friedrich Wilhelm I. und über die preußischen Reformen. Die nationalgeschichtliche Thematik Ostpreußens nimmt sodann in den Kapiteln von der Reichsgründung bis zum gewaltsamen Ende 1945 den breitesten Raum ein. Wo Kossert den Versuch unternimmt, das Schreckensfinale von Flucht und Vertreibung in den Nexus von Schuld und Verhängnis zu rücken, indem er an NS-Verbrechen wie das grauenhafte Massaker an jüdischen KZ-Häftlingen am Strand von Palmnicken erinnert, handelt es sich um ein „deutsches“ Thema. Der Leser erfährt manch wenig bekanntes Detail: 1933 lancierte der neue ostpreußische Landesbischof Fritz Keßel den Gauleiter Koch zum Präsidenten der Provinzialsynode. Oskar von Hindenburg war Kommandant des Stalag Ib, in dem 55.000 russische Kriegsgefangene umkamen. Daß unter dem „streitbaren“ Erich Koch die masurischen Bauern, die ab1930 (offensichtlich von den linken Parteien) in Scharen zur NSDAP übergelaufen waren, von dessen „Ostpreußenplan“ profitierten und sich danach als endlich gleichwertige „Volksgenossen“ empfanden, erklärt deren Treue zum „Führer“ bis zum bitteren Ende. Als Generalkommissar der besetzten Ukraine stützte sich Koch auf ostpreußische Beamte. Koch, notorisch als „Schlächter der Ukraine“, wurde von einem Warschauer Gericht 1958 nur für seine Verbrechen in Bialystok und Soldau verurteilt. Die Frage, warum die Verbrechen in Ostpreußen und in der Ukraine ungesühnt blieben, stellt Kossert nicht – weil sie nationale Antagonismen berührt? Seine als Versöhnungsgeste gedachte These unterlegt der Autor in immer neuen Variationen, oft im Ton des Konfirmandenunterrichts. („Wie immer rechtfertigte die Bilanz des Schreckens den Krieg nicht.“ „Da zeigte sich wieder (…) ganz selbstverständlich Preußens multiethnische Geschichte aus vornationaler Zeit.“ „Patriotismus und Nationalismus haben sich stets als hervorragende Mittel zur Ablenkung von sozialen Mißständen und zur Ausgrenzung Andersdenkender erwiesen.“ Darüber könnte man hinweglesen. Irritationen erweckt das Buch, wo Auslassungen, Fehlassoziationen, Faktenfehler und schiefe Werturteile zu notieren sind, dazu sprachliche Entgleisungen. Die katholische Barockkirche Heiligenlinde „stellt eine religiöse Obskurität dar.“ Gemeint ist eine historische Kuriosität. Über die 1731 vertriebenen Salzburger Protestanten ist zu erfahren: „Bis 1945 trugen Salzburger Familiennamen zum multiethisch geprägten ostpreußischen Namenskonglomerat bei“. Der Name Andreas Hillgruber, Mitauslöser und Opfer des „Historikerstreites“, taucht indes nirgends auf. Über Königin Luise: „Was sie (über höflich auftretende russische Offiziere) am 18. April 1807 an Friedrich Wilhelm III. schrieb, klingt unglaublich, wenn man sich den russischen Einmarsch von 1914 vor Augen hält, ganz zu schweigen von 1944/45 und der im Zeitalter des Nationalismus aufgebauten Dämonisierung des slawischen ‚Untermenschen'“. Ohne Hinweis auf den Bruch der Reichsverfassung seitens der Rheinbundfürsten heißt es zuvor: „Als Franz II. im Jahr 1806 die römisch-deutsche Kaiserkrone niederlegte, zerbrach das Alte Reich.“ Der Dichter Max von Schenkendorf wird als großer preußischer Patriot gerühmt, nicht jedoch als Inspirator der deutschen Nationalbewegung. Für die Dialektik des liberalen Nationalismus hat der Autor kein Gespür, wenn er einerseits als Beleg für das liberale „Altpreußentum“ (?) den Brief des Gutsbesitzers Ernst von Saucken-Targutschen zitiert, der 1849 Friedrich Wilhelm IV. zur Annahme der Kaiserkrone drängte, andererseits die Reichsgründung als Wurzel allen Übels betrachtet. Was unterschied den 1848er Friedrich Kapp, der 1871 als Nationalliberaler aus den USA ins neue Reich zurückkehrte, von seinem Sohn Wolfgang Kapp, dem Protagonisten des Kapp-Putsches? Über die Opfer der „Schlacht von Tannenberg“ im August 1914: „Fürwahr ein hoher Tribut, den die nationalen Eitelkeiten forderten,“ als ob es in der Julikrise 1914 um „nationale Eitelkeiten“ gegangen wäre. Warum der „knorrige Ostpreuße“ Friedrich von Berg-Markienen einmal als Wahrer konservativer Tradition gegenüber der NS-Fraktion im Adel, danach als Vertreter des völkischen Flügels in der Standesgenossenschaft erscheint, bleibt unerklärt. Warum zählt Goerdeler als DNVP-Bürgermeister in Königsberg zu den „demokratischen Stadtrepräsentanten“ und nicht zu den „reaktionären Kräften“? Warum erfährt der Leser, daß der „passionierte Jäger Göring“ vom einst kaiserlichen Jagdhaus in der Rominter Heide aus eine Art „Nebenaußenpolitik“ betrieb, aber nichts über dessen Partner und Jagdgäste, die polnischen Obristen? Wie steht es mit Stinnes, dem Stifter des Kant-Denkmals? Wie kommt Kossert zu der Pauschalbehauptung: „Polen, Russen und Ukrainer wurden noch viel schlechter behandelt als die französischen und belgischen Kriegsgefangenen und überlebten die Sklavenarbeit in Industrie und Landwirtschaft nur selten“? Dem stehen einerseits die zahllosen Sondergerichtsprozesse sowie die 500 bis 600 Todesurteile gegen unbotmäßige „Volksgenossen“ gegenüber, andererseits die Tatsache, daß nach Kriegsende viele Höfe von den bisherigen Zwangsarbeitern übernommen wurden. Für Kossert gilt als erwiesen, daß die Greuel der Roten Armee in Nemmersdorf im Oktober 1944 von der nationalsozialistischen Propaganda „in Szene gesetzt wurden“, obgleich Überlebende das Gegenteil berichtet haben. Zum Schluß, nachdem sich der Autor über Tourismuskataloge Litauens, welche „die Geschichte des Memellandes zuweilen verzerrt“ wiedergeben, verwundert zeigt, heißt es: „Erinnerung ist wichtig. Das lehrt die Geschichte Ostpreußens.“ Nach Lektüre des gutgemeinten Buches erhebt sich die Frage: welche Erinnerung? Andreas Kossert: Ostpreußen. Geschichte und Mythos. Siedler Verlag, München 2005, 448 Seiten, gebunden, Abbildungen, 24,90 Euro Foto: Robert Assmus, Stadtansicht Memel, Holzstich 1890: Als Versöhnungsgeste gedachte Thesen
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