Wenn „Bewahrung“ das Ziel des politischen Konservatismus in Deutschland war, so hätte die Bilanz im Rückblick auf die Anstrengungen der letzten hundert Jahre kaum desaströser ausfallen können. Noch vor dem Ende der Weimarer Republik vermochte sich der parteipolitisch organisierte Konservativismus nicht einmal mehr selbst zu bewahren. Seine demokratiekompatiblen Derivate, die nach 1945 in der politischen Arena Westdeutschlands auftraten, allen voran die Christdemokraten spätestens in der Ära Helmut Kohls, lassen sich aus der Perspektive von 1912 oder selbst 1925 ohnehin nur als Schrittmacher hochgradiger gesellschaftlicher Dekomposition wahrnehmen, denen auch jedes Bewußtsein dafür abhanden gekommen war und ist, was überhaupt jenseits des Bruttosozialprodukts bewahrenswert hätte sein sollen. Nicht selten fordert dieser Prozeß der Marginalisierung konservativer Gesellschaftsentwürfe zur Erklärung heraus, daß sich in Deutschland leider nie der Typus des britischen „Tory-Konservatismus“ ausprägen konnte, also eine politische Formation, der eine Synthese konservativer und liberaldemokratischer Weltanschauung gelungen wäre. Als Anwärter auf diese Leerstelle deutscher Parteiengeschichte, so wird dann regelmäßig hinzugefügt, lasse sich allenfalls die Volkskonservative Vereinigung benennen. Doch diese Deutschnationalen, die dem auf Totalopposition gegen Weimar und für den Schulterschluß mit der „Bewegung“ Adolf Hitlers fixierten Kurs ihres Parteivorsitzenden Alfred Hugenberg nicht folgen mochten, verschwanden bei der historischen „Erdrutschwahl“ im September 1930 in der Versenkung. Immerhin scheint die kurzlebige Wirklichkeit der Volkskonservativen die Möglichkeit eines deutschen Toryismus außer Frage zu stellen. Und wenn man die Aufsatzsammlung der beiden Zeithistoriker Larry Eugene Jones (Buffalo/New York) und Wolfram Pyta (Stutt-gart) zur Kenntnis nimmt, steht mit der Gestalt des preußischen Verwaltungsjuristen Kuno Graf von Westarp sogar der personifizierte deutsche Tory vor uns. Den heute völlig vergessenen Parlamentarier und politischen Publizisten, vor und nach 1918 als Fraktionsführer der Deutsch-Konservativen Partei im Reichstag bzw. als Fraktionsführer und Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei der „einflußreichste konservative Parteipolitiker in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, wissen die Herausgeber denn auch nicht genug zu loben. Dieses Lob speist sich offenkundig aus der Begeisterung, in Westarp einen „alternativen“ Konservatismus entdeckt zu haben, reaktionär, monarchistisch, „gemäßigt antisemitisch“, natürlich auch sehr weitgehend antidemokratisch, aber, wie der neuerdings als „Adelshistoriker“ medial omnipräsente Stephan Malinowski in seinem Beitrag formuliert, „von faschistischen Modellen deutlich und dauerhaft unterscheidbar“. Dies zählt überhaupt zu den wichtigsten Erträgen des Bandes: daß man die aus der DDR-„Geschichtspolitik“ widerstandslos übernommene Praxis hinter sich läßt, die Gräben zwischen Nationalsozialismus und Konservatismus nach Kräften zu planieren, um statt dessen die prinzipiellen politisch-weltanschaulichen Gegensätze wieder scharf zu konturieren. So ist Malinowski bestrebt, primär die „Barrieren“ aufzuzeigen, die Westarp seit der Wahrnehmung des „Phänomens“ Hitler in den frühen zwanziger Jahren unüberwindbar auf Distanz zum Nationalsozialismus hielten: sein monarchistischer Legitimismus, die im Verlauf seiner „stillen Republikanisierung“ erfolgte Integration in die „bürgerliche dominierte Kultur der Debatte und Verhandlung“ samt der Wertschätzung rechtsstaatlicher Werte und Prozeduren, die, ungeachtet starker Vorbehalte gegen politisch-soziale Prätentionen des Judentums, daraus erwachsene Grundposition, an der staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden dürfe nicht gerüttelt werden, und schließlich sein aristokratischer Etatismus, dem aufgrund kompromißloser Ablehnung der „Ideen von 1789“ wie selbstverständlich auch die in die „Volksgemeinschaft“ mündende NS-Massenbewegung ein Greuel sein mußte. Wie Karl J. Mayer in seiner aus Nachlaßquellen erarbeiteten Studie über „Westarp als Kritiker des Nationalsozialismus“ präzisiert, belegen auch die privaten Äußerungen im Schatten der durchaus begrüßten außenpolitischen Erfolge Hitlers und der anschließenden „Blitzsiege“, daß der Graf ein „unkorrumpierter Konservativer“ blieb, der seine fundamentale Gegnerschaft nicht aufgegeben habe, wenn er auch den Weg, der einige Standesgenossen zum „20. Juli“ führte, nicht mitgegangen sei. Mayer hält dies für entscheidend, obwohl er in der kardinalen Judenfrage für die Zeit nach 1939 dokumentiert, wie Westarp die NS-Überzeugung teilte, hinter der britischen Kriegspolitik stünden „jüdisch-großkapitalistische Interessen“, woraus zumindest seine „grundsätzliche“ Billigung von Hitlers Kriegsziel, „das Judentum als Gegner zu vernichten“, resultierte. Aber eben nur „grundsätzlich“: „Wenn ein jüdisches Staatswesen welcher Art auch immer im feindlichen Lager stand, dann mußte es ausgeschaltet werden, um die Sicherheit des Reiches zu gewährleisten“ – eine Zustimmung zur systematischen Vernichtung der Juden im deutschen Machtbereich, zur „Endlösung“, die ihre „Entfernung ‚ins Jenseits'“ bedeutete, lehnte er ebenso strikt ab wie ihre seit 1933 praktizierte „maßlose Unterdrückung“. Benutzen Malinowski und Mayer bei ihrer Bestimmung der Eigenart dieses „monarchistischen Don Quichote“ die NS-Kontrastfolie, greifen Pyta, der Westarp mit Hindenburg vergleicht, Jones („Die Krise des deutschen Konservatismus in der Weimarer Republik“), Raffael Scheck, der Westarps Position in der Kriegszieldebatte des Ersten Weltkriegs untersucht, und James Retallack, der Einblicke gewährt in die Korrespondenz zwischen dem Grafen und seinem Mitstreiter, dem „ungekrönten König Preußens“, mit Ernst von Heydebrand und der Lasa, dem langjährigen Führer der Deutschkonservativen Partei, auf interne Differenzen und Fraktionierungen im konservativen Lager zurück. So gelingt das vielschichtige Porträt eines deutschen Tory, dem keine politische Zukunft beschieden war. Vermissen wird der Leser nur eine knappe biographische Skizze, die Westarp auch deshalb verdient hätte, weil seine „Persönlichkeit und Statur“, sein „nobler Charakter“, nach Einschätzung der Herausgeber nicht wenig zu seiner Wertschätzung über die politischen Gegensätze hinweg beigetragen haben. Larry Eugen Jones, Wolfram Pyta (Hrsg.): „Ich bin der letzte Preuße“. Der politische Lebensweg des konservativen Politikers Kuno Graf von Westarp (1864-1945), Böhlau Verlag, Köln 2006, gebunden, 221 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro.