Den Namen Paul Nolte wird man sich merken müssen. Nicht wegen seines bemerkenswert zügigen Aufstiegs in der akademischen Welt – er wurde unlängst mit gerade 42 Jahren Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Berlin -, sondern weil er jetzt schon zu den erfolgreichsten Publizisten im Grenzgebiet zwischen Lehre, Feuilleton und Politikberatung gehört. Die Zeit zählt ihn unter die „Quotenkönige der Wissenschaft“, die am häufigsten in den Medien genannten Hochschullehrer. An der Bedeutung von Noltes Forschungsarbeit und Fachpublikationen kann das kaum liegen. Wenn ihn die FU als „herausragenden“ Vertreter seiner Disziplin begrüßte, nehme man das mit gebotener Skepsis. Seine Veröffentlichungen, im Schwerpunkt zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur modernen Sozialgeschichte und deren Ordnungskonzepten, legt man kaum beeindruckt zur Seite. Allerdings ist Nolte an der Basistätigkeit des Historikers auch weniger interessiert. Ihn zieht das erwähnte Grenzgebiet an, entsprechend einem Modell, das er an seiner Heimatuniversität Bielefeld kennenlernte. Da verstand er bei Hans-Ulrich Wehler nicht nur, was „Gesellschaftsgeschichte“ ist, sondern auch, daß öffentlicher Ruhm demjenigen winkt, der entschlossen aus dem Elfenbeinturm heraustritt. Als der „Historikerstreit“ 1986/87 die Seiten der Gazetten füllte, erhielt der Student Paul Nolte seine ersten Lektionen. Noltes Parteinahme war damals eindeutig: für Habermas und gegen Ernst Nolte (wie peinlich ihm die Nachnamensgleichheit sei, wurde er nicht müde zu betonen). Gelegentlich kokettiert er mit einer linken Vergangenheit, aber im Grunde ist es müßig, zu fragen, was genau ihn zu dieser Parteinahme bewog. Sie zeugt in jedem Fall von Gespür für Machtverhältnisse und Konjunkturen. Nolte hat später den Zusammenhang von ideologischer Orientierung, Generationenzugehörigkeit und Laufbahnchancen überzeugend analysiert und gezeigt, wie deutlich ihm die wechselseitige Abhängigkeit der Faktoren vor Augen steht. Bei realistischer Einschätzung der Chancen auf einen Lehrstuhl in der Geschichtswissenschaft war die Positionierung als „Bielefelder“ sicher die aussichtsreichste. Konservatismus als Verteidigung der Moderne Allerdings hat sich das Zeitklima, das dieser Schule zur Durchsetzung verhalf, seit den siebziger und achtziger Jahren deutlich verändert. Das wiederum bewog Nolte zu einer Korrektur im Weltanschaulichen. Ohne die Brücken in das Herkunftsmilieu abzubrechen, änderte er peu à peu seine politische Ausrichtung, was ihn in das Umfeld der CDU, genauer gesagt: ihres Modernisiererflügels, führte. Dort wurde er mit offenen Armen empfangen, ist seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts ein gern gesehener Gast nicht nur der Konrad-Adenauer-Stiftung, sondern aller möglicher Gremien, die sich jenseits des politischen Alltagsgeschäfts die Welt deuten lassen möchten. Diesem Bedürfnis entspricht Nolte paßgenau, nicht zuletzt, weil er keine übertriebenen Erwartungen an die Partei heranträgt. Er sieht in der Union weder Kampf- noch Glaubensgemeinschaft, eher ein Medium, um seine Vorstellungen zu verbreiten. Die harmonische Ergänzung trug Nolte schon das Etikett „Jungstar der Konservativen“ (taz) ein. Aber das geschah in böser Absicht. Er selbst hat in einem großen Essay für den Merkur darauf hingewiesen, daß die „Krise des Konservatismus“, ja sogar dessen mögliches Verschwinden, nicht unbedingt als Nachteil betrachtet werden müsse. Der Konservatismus habe sich insgesamt als unfähig erwiesen, die Herausforderungen zu bewältigen, gar nicht zu reden von den spezifischen Belastungen, denen er in Deutschland ausgesetzt gewesen sei. Allerdings meinte er zum Schluß versöhnlich, man solle die Debatte, die mit dem Kongreß „Tendenzwende“ begonnen habe und nach der Diskussion über den „Neokonservatismus“ abgebrochen wurde, bei Gelegenheit wieder aufnehmen. Wahrscheinlich betrachtet Nolte seine beiden letzten Bücher, unter den Titeln „Generation Reform“ und „Riskante Moderne“ erschienene Aufsatzsammlungen, als Versuch, genau das zu tun. In „Generation Reform“ entwirft er jedenfalls die Umrisse eines Programms für seine eigene Alterskohorte, die nun bald in die Verantwortung einrückt. Das Buch hat verblüffenden Erfolg, die sechste Auflage ist im Druck, und eine Sonderausgabe wird von der Bundeszentrale für politische Bildung zusätzlich vertrieben. Eine Ursache dafür ist sicher die Massierung von Gemeinplätzen. Nolte sagt den Leuten, was sie hören wollen. Ohne Hemmung plaudert er über bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft, Netzwerke und Steuerstaat, die Notwendigkeit, das Misanthrope auszutreiben und den Machern den Rücken zu stärken. Erst im Schlußteil kommt er auf das eigentliche Kernthema zu sprechen: den dritten Weg zwischen Neoliberalismus und Verteidigung des Status quo, zwischen „schlankem“ und „nachbismarckischem Anstaltsstaat“. Die von Nolte angestrebte „neue bürgerliche Gesellschaft“ soll ausdrücklich mittels „konservativer Reform“ verwirklicht werden, in Umsetzung einer „konservativen politischen Agenda“: Wiederverankerung des Religiösen, Beschränkung des Hedonismus, Subsidiarität, eine neue Bescheidenheit und Identitätsförderung. Das erscheint in solcher Abstraktheit durchaus präsentabel, aber bei genauerer Betrachtung erkennt man, daß Nolte außerstande ist, konkreter zu sagen, was er vorhat: es geht ihm ausdrücklich nicht um eine Rückkehr zum Christentum, nicht um Zucht und Ordnung, nicht um die traditionellen Gemeinschaftsformen und nicht um die Nation. Alles bleibt irgendwie vage, stellt keine direkten Forderungen an das Publikum und bietet dem Verfasser jede denkbare Rückzugsmöglichkeit. Wenn Nolte einmal kritisch äußerte, daß seine Generation es versäumt habe, sich wirklich festzulegen, dann trifft ihn dieser Vorwurf selbst. Seine Vorstellung, man müsse die Errungenschaften von ’68 anerkennen und konservativ weitermachen, man solle gleichzeitig von Habermas und Gehlen lernen, wirkt vor allem unentschieden. Der Eindruck mildert sich nicht nach Lektüre des zweiten Bandes, der die „Riskante Moderne“ behandelt. Noch deutlicher als bei „Generation Reform“ tritt hier der Mangel an Fundamenten hervor, die entscheidenden Begriffe sind geborgt („Zweite Moderne“, „Risikogesellschaft“, „Bürgergesellschaft“), und was Nolte zur Geschichte Deutschlands und der westlichen Welt im 19. und 20. Jahrhundert ausbreitet, erscheint im besten Fall nichtssagend, manchmal falsch. Nirgends trifft man auf originellere Einsichten. Profillosigkeit erhöht aber die Anschlußfähigkeit, so daß Nolte ganz gelassen die „Alternative links“ (Fortsetzung des Systems Schröder mit tauglicheren Mitteln) und die „Alternative rechts“ (eine Art bürgerliche Vorwärtsverteidigung) zur herrschenden Misere präsentieren kann. Seine Wahl ist offenbar die „Alternative rechts“, wobei sich das „Rechte“ natürlich in der „Mitte“ findet, und deutlicher als in „Generation Reform“ wird erkennbar, daß er nicht einmal an die liberalkonservativen Muster Lübbes oder Marquards anknüpfen will: „Entschleunigung“, so Nolte, ist eine Illusion, „Konservatismus“ hat sich der „Verteidigung der Moderne“ zu widmen, ohne Wenn und Aber. Wahrscheinlich weiß Nolte nicht, in wessen geistige Nähe er sich damit begibt, denn diese Forderung erhob schon einmal der „Technokratische Konservatismus“ am Ende der sechziger Jahre. Allerdings war man sich in dessen Reihen auch über den Preis solcher Programme im klaren. Wenn die Rechte auf die Seite der Sachzwänge, der Rationalität und der technisch-industriellen Zivilisation trat, dann aus Einsicht in das unerbittlich Notwendige. Was einem Arnold Gehlen, einem Helmut Schelsky, einem Karl Steinbuch oder einem Armin Mohler vor Augen stand, war jedenfalls eher die Welt des „Arbeiters“ mit ihren „Werkstättenlandschaften“ als die Idylle, die Nolte ausmalt. Denn dessen Verlangen, man möge ohne Vorbehalt in die Moderne eintreten und die – typisch deutschen – Widerstände aufgeben, wird mit allen möglichen Nettigkeiten aufgeputzt, um die Zumutungen in Grenzen zu halten: dem neuen Mann, dem erweiterten Kinderbetreuungsangebot, der Gewaltprävention, dem Heimatgefühl, dem gezähmten Patriotismus, der menschheitlichen Identität etc. Der dritte Weg führt schnurstracks durch die Mitte Auch so vermittelt Nolte den Eindruck, daß er jeder Entscheidung ausweicht, und dieses Ausweichen erklärt viel von seinem Erfolg. Denn, was immer man gegen ihn vorbringen mag, eines muß man zugestehen: Einfühlungsvermögen in die Stimmungslagen, Empathie für den Zeitgeist. Daß der nicht mehr „links“ sein kann, ist ihm ebenso deutlich wie das Unbehagen vieler angesichts der Alternativen. Der Nationalismus als „Integrationsideologie“ wird rasch verabschiedet, aber fast beschwörend heißt es bei Nolte, daß „die programmatischen und ideologischen Reste eines klassischen Konservativsmus“ längst „aufs Abstellgleis gelaufen“ seien: „Etwaige Befürchtungen eines klassischen konservativen backlash werden deshalb … ins Leere gehen.“ Ganz treffend fügt er hinzu, daß in der Union die Lage klammheimlich genauso eingeschätzt werde und niemand das Desaster der in Hohn und Spott untergegangenen „geistig-moralischen Wende“ von 1982 wiederholen wolle. Nolte ist ein Protagonist der „modernen Großstadtpartei“ CDU, derer, die im Hier und Jetzt angekommen sind, die endlich auch ihren Spaß wollen und keine Debatten über Versäumnisse und die, die sie zu verantworten haben, nicht einmal dann, wenn sie sich in den Reihen der politischen Gegner fänden. Die Sympathie, die er genießt, erklärt sich daher, daß er eine Geschichtsinterpretation anbietet, die jeder Seite ihre Aufgabe im größeren Ganzen der bundesrepublikanischen Geschichte bestätigt. Das Auftreten der Achtundsechziger und die Egalisierung waren ebenso notwendig wie der bürgerliche Vorbehalt gegenüber mangelnder Hygiene und mangelnden Manieren. Wechselseitige Anerkennung der Verdienste soll die Grundlage für den neuen „Republikanismus“ bilden. Nolte glaubt, daß es Zeit ist für einen historischen Kompromiß. Auch deshalb wirkt das Gerücht, „Generation Reform“ sei das Lieblingsbuch des Bundespräsidenten, durchaus glaubwürdig, ebenso wie jenes andere, daß Jürgen Rüttgers Nolte in sein Wahlkampteam holen wollte, der aber ablehnte. Das muß nicht gegen Ambitioniertheit sprechen, sondern hat mit Einsicht in die notwendige Arbeitsteilung zu tun. Die „Gesellschaft“, wie sie von führenden CDU-Politikern und von Nolte wahrgenommen wird, ist nur noch ein ungeschichtliches Ganzes, ein Aggregat von Einsamen, die mit Nachdruck Kompensation für ihre Verluste, ökonomische wie nichtökonomische, verlangen. Nolte mag das „Unterschichtenfernsehen“ nicht, das solche Kompensationsleistungen anbietet, er mag auch den Manchesterkapitalismus nicht, der jeden, auch den Schwachen, sich selbst überlassen will. Er glaubt Besseres vorschlagen zu können. Aber es geht ihm nur um Aushilfen. Er scheut vor allem zurück, was die Legitimität der herrschenden Zustände tatsächlich in Frage stellen könnte, und bedient das Trostbedürfnis des von ihm entdeckten „neuen Bildungsbürgertums“, das mit Einladungen ins „Wohlfühlland“ und „Mitmachland“ nicht zu erreichen ist. Paul Nolte: Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus. Verlag C.H. Beck, München 2006, geb., 312 Seiten, 19,90 Euro Foto: Paul Nolte: Als Politikberater braucht den Historiker die wissenschaftliche Basistätigkeit kaum zu interessieren