Erstaunliche Parallelen findet Pankraz zwischen einem Aufsatz des amerikanischen "Neocons" Robert Kagan kürzlich in der Welt und dem berühmten Buch "Der maßlose Kontinent", das Giselher Wirsing in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, kurz vor der Kriegserklärung des Dritten Reiches an die USA, herausbrachte. Der "Maßlose Kontinent" war die Frucht einer ausgedehnten Reise durch die Vereinigten Staaten, die Wirsing, Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten, 1938/39 unternommen und die ihn zu dramatischen Einsichten über die Natur der amerikanischen Lebensform geführt hatte.
Die Vereinigten Staaten, so Wirsing, sind habituell, von ihrer Überzeugung und Gründungsgeschichte her, ein zutiefst aggressives und für andere Nationen höchst gefährliches Land, auf Dauerexpansion und blind-revolutionären Umbruch programmiert, allen gewachsenen Traditionen und Gemeinschaften feindlich gesinnt, unfähig zu wirklicher kritischer Selbstreflexion, bis oben hin mit der pausbackigen Gewißheit angefüllt, daß sie die Besten, Gerechtesten und Gesündesten seien, "Gottes auserwähltes Volk", das sich letztlich alles herausnehmen dürfe.
Bei Kagan, wie gesagt, finden sich nun die gleichen Töne, nur weniger kritisch, vielmehr selber pausbackig. Der Expansionismus, so das prominente Mitglied des "Carnegie Endowment for international Peace" (Präsident Bushs bevorzugte Denkfabrik), liege in den amerikanischen Genen. Es gebe für Amerika geradezu einen biologischen Drang, sich überall einzumischen. Die USA seien, wie schon Dean Rusk einst völlig richtig konstatiert habe, "die Lokomotive der Menschheit", der Rest der Welt "ihr Dienstwagen".
Kagan wörtlich: "Schon lange vor der Staatsgründung waren britische Kolonisten eifrig bemüht, die Ureinwohner Amerikas beinahe auszulöschen. Von den 40ern des 18. bis zu den 20ern des 19. Jahrhunderts haben sich die Amerikaner unbarmherzig ausgebreitet – bis sie nicht allein die Indianer verdrängt hatten, sondern ebenso Frankreich, Spanien und Rußland. Es wäre schon außergewöhnlich, hätten die frühen Amerikaner so viel Land und Macht angehäuft, ohne es wirklich zu wollen."
Bemerkenswert auch, so weiter Kagan, wie nahtlos es den Amerikanern gelinge, ihren "natürlichen", für andere Völker und Kulturen oft tödlichen Expansionismus mit dem eigenen Gewissen in Übereinstimmung zu bringen. Die Zauberformel heiße: "Liberalismus kontra Despotismus". Diese Formel "bot einen ideologischen Überbau, um Expansionen zu rechtfertigen. Die Amerikaner glaubten, jeder Nation, mit der sie auf ihrer Suche nach neuen Chancen in Berührung kamen, die moderne Zivilisation und ‚die Segnungen der Freiheit‘ zu bringen."
Auch schon bei Wirsing gab es Passagen über die in den USA so reibungslos gelingende Verbindung von expansionistischem Eigeninteresse und gutem Gewissen nebst Gottesfürchtigkeit. Sie hieß bei ihm "Heuchelei". Die Amerikaner seien die geschicktesten Heuchler, die es je in der Weltgeschichte gegeben habe. Aber Pankraz fragt: Was heißt denn Heuchelei? Zum Heucheln gehört doch wesenhaft dazu, daß der Heuchler die Differenz zumindest spürt, die sich zwischen seinem Handeln und seinem Predigen auftut.
Davon kann jedoch, wie der Text von Kagan wieder einmal zeigt, im Falle der USA kaum die Rede sein. Wir haben es hier vielmehr mit einer Art kollektiver Selbstsuggestion zu tun, die den uns allen eingeborenen moralischen Sinn einfach lahmlegt. Die Leute sind und bleiben felsenfest davon überzeugt, daß sie der Welt "das Heil" bringen, auch und speziell denen, die sie tagtäglich mit Streubomben eindecken und die sie in extra dazu eingerichteten Foltergefängnissen demütigen und zu Krüppeln schlagen.
Nie hätte es ein Stalin oder ein Berija in der Sowjetunion gewagt, sich in aller Öffentlichkeit zu den von ihnen angeordneten Folterpraktiken zu bekennen; man schwieg darüber, sogar in den geheimen Anweisungen an die Folterknechte sprach man immer nur davon, daß "gegebenenfalls physischer Druck" ausgeübt werden dürfe. Ein US-Außenminister Rumsfeld hingegen findet heute überhaupt nichts dabei, in freier Radiorede bekanntzugeben, daß unter seiner Zuständigkeit routinemäßig die grausame Wasserfolter praktiziert wird und daß er, Rumsfeld, das für "selbstverständlich" hält. Das ist keine Heuchelei mehr, das ist eine Maßlosigkeit, die nur aus moralischer Unempfindlichkeit entspringen kann.
Sind die USA also tatsächlich der "maßlose Kontinent", den Giselher Wirsing einst – nicht ohne aktuelle politische Absicht – so eindrucksvoll beschrieb? Nun, glücklicherweise häufen sich die Gegenargumente, wie nicht zuletzt der Ausgang der jüngsten Kongreßwahlen zeigt. Immer mehr ehrlich liberal gesinnte Amerikaner in allen Lagern scheinen zu realisieren, daß Kagans Zauberformel "Liberalismus kontra Despotismus" überhaupt nichts taugt, weil die Welt eben nirgendwo simpel in Schwarz und Weiß aufgeteilt werden kann, daß sie in fast unendlich vielen Nuancen schimmert und daß es gerade auf diese Nuancen ankommt.
Wer sich selber für die Nuance aller Nuancen hält und international dementsprechend herumfuhrwerkt, der wird in ziemlich kurzer Zeit, Liberalismus hin oder her, zum Despoten, mit allen Schrecken, die Despoten auszeichnen: tagtäglicher Massenmord an Zivilisten in Übersee, totale Entrechtung von Gefangenen, doppelgleisige Gewalt-Diplomatie, Foltergefängnisse, "Foltertourismus", horrende Militarisierung des öffentlichen Lebens und der Wissenschaft. Man gleicht sich rapide dem Gegner an, den man angeblich bekämpft.
Am Ende gibt es weder Nuancen noch simples Schwarz-Weiß, sondern nur noch jene Finsternis, in der alle Kühe (und auch alle Wölfe) gleichmäßig schwarz sind. Da hilft dann auch kein Hinweis auf die Gene mehr, die man in sich trägt und die einen angeblich so unveränderbar aggressiv sein lassen.