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Ehrfurcht auch vor dem Kleinen

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Ehrfurcht auch vor dem Kleinen

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Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon einmal von meiner großen Zuneigung zu Carossa schrieb. Für amein Empfinden ist er einer der reinsten und edelsten Menschen, einer der deutschesten Dichter, die wir haben.“ In diesen Worten Stefan Zweigs an Otto Heuschele 1924 drückt sich auch die allgemeine Verehrung aus, die dem heute fast vergessenen Dichter Hans Carossa vom deutschen Bildungsbürgertum bis in die fünfziger Jahre entgegengebracht wurde. Carossa wurde am 15. Dezember 1878 in Tölz geboren. Der Vater war Arzt und hatte italienische Vorfahren, die aus Verona eingewandert waren. Hans Carossas Lebenskreis aber war ganz und gar mit der vorindustriellen bayerischen Heimat, der Donaulandschaft um Passau verbunden, und diese Verwurzelung bildet einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis seines Werks. Nach dem Abschluß der Lateinschule in Landshut wandte sich Carossa nach München, der Geburtstadt seiner Mutter, um Medizin zu studieren. Hier wurde er, der bisher ganz im kleinstädtischen Milieu aufgegangen war, mit der Belle époque, mit dem Münchner Glanz und Pomp der Prinzregentenzeit, mit Lenbach und Stuck, mit dem Symbolismus und Fin de Siécle, aber auch mit Naturalismus und Realismus und der Münchner Sezession konfrontiert. Nach Abschluß der Studien in Leipzig ließ sich Carossa gerade 25jährig als Arzt in Passau nieder. Im Ersten Weltkrieg war er Bataillons- und Stabsarzt in Nordfrankreich und auf dem Balkan. Seine Erinnerung daran hat er später in seinem „Rumänischen Tagebuch“ veröffentlicht. In den zwanziger Jahren arbeitete er in München, wo er in der Theresienstraße in einem trostlosen Mietshaus der banalsten Art als Lungenspezialist eine ernüchternde Kassenpraxis betrieb, die von armen Leuten konsultiert wurde. Indes, den museal anmutenden Ordinationsraum zierten alte Bücher und Stiche, zahlreiche Plastiken und, über allen thronend, ein Bildnis Stefan Georges. 1929 zog sich Carossa nach Passau, später ins nahegelegene Rittsteig zurück. Hans Carossa war ein ruhiger und tiefsinniger Beobachter der Natur, der sich geduldig in das Unscheinbare und Leise, in die langsame schöpferische Verwandlung versenken konnte. Und er entdeckte dabei eine Welt großer Wunder, voll Anmut und Schönheit und geheimnisvollen Reichtums, die vieltausendjährige Vergangenheit einer unergründlichen Einheit von Landschaft, Kreatur, Schicksal, Tragik, die die Weltharmoniegesetze ahnen läßt. Blühendes hat Carossa schon in den frühen Tagen seiner Kindheit mit großer Neugier beobachtet und mit heiterem Ernst im Garten der Mutter gepflegt. Von seiner seelischen Verbundenheit mit dem Reich der Blumen und der heimlichen Welt winziger Wunder, die er auf seinen Spaziergängen im Garten entdeckte, legen seine Erinnerungen von „Kindheit und Jugend“ reichlich Zeugnis ab. Gelassenheit und Demut, die ehrfurchtsvolle Erforschung der Natur und die anschauende, einfühlende Betrachtung haben sich bei ihm in der Auseinandersetzung mit Goethe ausgebildet. Alles wird für ihn zu Sinnbild und Gleichnis. Das Einfache und scheinbar Geringe fügt sich harmonisch in eine höhere Ordnung und hat Sinn und Bedeutung im naturhaften Werden und im kosmischen Ganzen. So hat denn alles seine geheimnisvolle Disposition, und die Heimat mit ihrer Landschaft, ihren Menschen und Tieren und ihren kleineren und größeren Vorkommnissen spiegelt ein Teil von der großen Welt. Und der Mensch ist geheißen, die Bedeutungszusammenhänge und die Ruhe wahrzunehmen, die in der heilsamen schöpferischen Ordnung voll Lebenskraft liegt und in die er selbst miteinbezogen ist. In diesem Sinne strebte Carossa stets danach, sich in seinem Lebenskreis als Glied eines sinnreichen Weltganzen zu bewähren und in seiner Berufung zum Arzt den Auftrag zu sehen, heilsam zu wirken. Welt und Schicksal werden human begriffen. Die Nähe zu Albert Schweitzer wird deutlich, viel mehr noch aber die zu Paracelsus und Goethe, für die die Natur voller Zeichen und Symbole ist. Als Student war Carossa bemüht, die trockenen Stoffmengen der medizinischen Wissenschaft im Goetheschen Sinne poetisch auszudeuten. Und in seinen spätere, zumeist autobiographischen Werken („Doktor Bürgers Ende“ 1913, „Der Arzt Gion“ 1931, „Führung und Geleit“ 1933) begegnen uns immer wieder Gedanken und Ideen der Goetheschen Naturbetrachtung. Auch schildert er darin seinen Werdegang gleich dem von Goethes Wilhelm Meister als irrend, suchend, schwankend, als einen Prozeß wachsender Reife, der letztlich geschichtlichen und kosmisch-natürlichen Zusammenhängen unterworfen ist. Alle individuelle Bedingtheit ist dabei Ausdruck des unauflöslichen Geheimnisses des Lebens. Das Bildungsziel, dem Carossa nachstrebt, ist in hohem Maß an Adalbert Stifter ausgerichtet: Bewunderung und Bewahrung des Schönen, Ehrfurcht auch vor dem Kleinen als ein Kleinod und Teil einer weltimmanenten Sinnhaftigkeit gestaltende Wirksamkeit im eigenen Kreis, Einfachheit der Lebensführung, die vor Zerstreuung bewahrt. Hinzu kommen die Orientierung des praktischen Lebens am ästhetisch-klassischen Ideal der Humanität und die Einschätzung des Bürgers als von besonderer moralischer Zuverlässigkeit. Es war wohl gerade dieser Geist Goethes und Stifters, der Einzug hält im Reich der Ästhetik, der das menschliche Leben als einen Vorgang der Sublimierung sieht, es war die kultivierte, an der Klassik orientierte Sprachgestaltung, die Carossas Anziehungskraft für das konservative Bürgertum in Deutschland ausmachte, wohl insbesondere, weil Carossa im nivellierenden Zeitalter der Massen ein verfeinertes Refugium finden ließ. Tatsächlich war er nach dem Tod Hofmannsthals, Rilkes und Stefan Georges, von denen er nachhaltig beeinflußt war, vielleicht der beliebteste Dichter in Deutschland. Carossa zeichnet tatsächlich die Wegspur eines deutschen Bürgers, der in die Welt eines zeitlosen Humanismus und in die klassisch-romantische Tradition ausweicht. Aber es ist auch das Bild einer sterbenden Welt, das er malt. Und es ist gewiß kein Zufall, daß bald nach seinem Tod am 12. September 1956 sein Ruf verblaßte, denn die Relikte bürgerlicher Denk- und Lebensformen, die sich trotz der Weltkriege bis in die Adenauer-Ära gehalten hatten, mußten in den sechziger Jahren einem gesellschaftlichen Umbruch weichen. Kommunismus und Nationalsozialismus waren gewiß für Carossa dämonische Einbrüche in seine geordnete Welt der Ausgeglichenheit und Harmonie. Wenn er sich dennoch 1941 für die Präsidentschaft der nationalsozialistisch geprägten Europäischen Schriftsteller-Vereinigung zur Verfügung stellte, so deshalb, weil – wie er rückblickend schreibt – eine Ablehnung ihn um „jede gute Wirksamkeit“ gebracht hätte. Carossa hat sich für verfemte Dichter – insbesondere für Alfred Mombert – mit Nachdruck und Erfolg eingesetzt. Seine Lebenserinnerungen „Ungleiche Welten“ erscheinen indes als retrospektive politische Tugendlehre. Wer mehr über die Zeit mit ihren revolutionären Dimensionen aus der Perspektive eines authentischen Beobachters erfahren will, sollte besser Ernst von Salomons „Fragebogen“ lesen. Hans Carossa, Gottfried Benn und Alfred Döblin waren Ärzte mit schriftstellerischen Ambitionen, deren Todestag sich heuer zum 50. Mal jährt – eine seltsame Zufälligkeit. Aber sie haben trotz ihrer direkten Zeitgenossenschaft die Wirklichkeit ganz unterschiedlich wahrgenommen: Benn beschrieb von seinem nihilistischen Standpunkt das Leben als eine Flut von Absurditäten und Sinnlosigkeiten, an dessen Ende ein ekliger Verwesungsprozeß steht. Sein Bewußtsein ist bestimmt von Resignation und Pessimismus und von der schrecklichen Hinfälligkeit der menschlichen Existenz. In Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ findet die Massengesellschaft ihren Generalnenner in der Reduktion auf die primitivsten Gemeinsamkeiten. Carossa fand Trost in seinem Ideal vom sensitiven Menschen humaner Verbundenheit und setzte damit eine entschiedene Differenz zum Bild vom „stählernen Menschen“, der in den zwanziger und dreißiger Jahren zur Chiffre einer martialischen Zeit wurde. Foto: Hans Carossa im Garten einer römischen Villa (um 1935): Eine Welt voller Anmut und Schönheit

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